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Keine zweite Impfung?

SARS-CoV-2: Forscher berechnen Vor- und Nachteile beim Verzicht auf die zweite Impfung

Die derzeit begrenzte Verfügbarkeit der Impfstoffe ge­gen SARS-CoV-2 hat zu Überlegungen geführt, die Bevorratung für die 2. Dosis aufzugeben oder sich zunächst ganz auf Einmalimpfungen zu beschränken. US-Forscher stellen hierzu in den Annals of Inter­nal Medicine Modellberechnungen an.

Die beiden Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna, die nach zwei Impfdosen eine Schutzwirkung von etwa 95 % erzielen, haben in den Phase-3-Studien die Zahl der Erkrankungen bereits nach der ersten Impfdosis gesenkt. In der Studie zu BNT162b2 von Biontech/Pfizer kam es vor der zweiten Impfung zu 39 Erkrankungen gegenüber 82 Erkrankungen in der Placebogruppe.

Dies ergibt eine Wirksamkeit von 52 % mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 30 bis 68 %. Es ist aller­dings ungewiss, ob die Schutzwirkung der ersten Dosis von Dauer wäre, da es in der Studie keine Gruppe gab, in der auf die zweite Dosis verzichtet wurde.

In der Studie zu mRNA-1273 von Moderna kam es in den ersten 14 Tagen nach der ersten Impfung zu 5 COVID-19-Erkrankungen gegenüber 11 Fällen in der Placebo-Gruppe. Die Wirksamkeit einer einzelnen Dosis könnte bei 51 % liegen, wobei das 95-%-Konfidenzintervall hier von minus 53,6 bis plus 86,6 % reicht, die Wirksamkeit also statistisch nicht signifikant ist. Auch zu mRNA-1273 gibt es keine Daten zur Dauer der Schutzwirkung einer einzelnen Dosis.

In den USA erhalten derzeit die ersten Menschen ihre zweite Dosis. Dies ist möglich, weil von den ein­zel­nen Lieferungen Mitte Dezember nur die Hälfte verimpft wurde und die andere Hälfte für die zweite Impfung zurückgelegt wurde, wie dies die Zulassungsbedingungen der FDA implizieren. Die Behörde hatte bei der Zulassung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es keine sicheren Daten zur Effektivität einer Einmalimpfung gibt. Auch der Leiter des National Institute of Allergy and Infectious Diseases An­thony Fauci hat sich öffentlich mehrmals gegen die Strategie einer Einmalimpfung ausgesprochen.

Das hat allerdings zwei Forscherteams nicht davon abgehalten, die Szenarien bei einer Einmalimpfung durchzurechnen. David Paltiel von der Yale School of Public Health in New Haven kommt in einer „Speed-versus-efficacy“-Berechnung zu dem Ergebnis, dass eine Einmalimpfung eine Effektivität von 55 % erzielen müsste, um in den nächsten Wochen ebenso viele Infektionen zu verhindern wie die vorgese­hene Zweifachimpfung. Zur Vermeidung gleich vieler Todesfälle würde eine Effektivität von 40 % aus­reichen.

Das ist in etwa die Effektivität, die die beiden Impfstoffe in den Studien nach der ersten Impfdosis er­reicht haben. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Impfschutz der Einmalimpfung lebenslang anhält. Bei einer Schutzdauer von nur 5 Monaten, müsste der Impfstoff eine Effektivität von 75 % erreichen, um die Zahl der Infektionen in den nächsten Wochen zu senken. Um die Zahl der Todes­fälle zu vermindern, wäre eine Effektivität von 60 % erforderlich. Auch das ist mehr, als die beiden Impfstoffe vermutlich leisten können.

Die Situation würde sich ändern, wenn das Virus sich schneller ausbreitet (beispielsweise infolge der neuen Variante B.1.1.7). Würde die effektive Reproduktionszahl in den USA von derzeit 1,8 auf 2,1 stei­gen, könnte nach den Berechnungen von Paltiel eine Impfstoffwirkung von 50 % ausreichen, um die Epi­demie schneller abflauen zu lassen – allerdings nur unter der Bedingung einer lebenslangen Immunität.

Wenn die Impfstoffwirkung nach 6 Monaten nachlässt, müsste die Wirksamkeit des Impfstoffs bei 70 % liegen. Die entsprechenden Zahlen für die Senkung der Todesfälle liegt bei 30 % (lebenslanger Impf­schutz) und 45 % (ungewisse Dauer des Impfschutzes). Hinzuzufügen ist, dass die Berechnungen unter der Voraussetzung eines „Roll-Outs“ der Impfung von 0,5 % pro Tag gelten, wie er derzeit in den USA erreicht wird.

Ein Team um Joshua Salomon von der Stanford Universität in Palo Alto hat ausgerechnet, wie sich eine flexiblere Verwendung der verfügbaren Impfstoffe auf den Verlauf der Epidemie auswirken könnte. Der Vorschlag lautet, in den ersten 3 Wochen nur 10 % der Impfstoffe für die zweite Dosis aufzuheben, für die nächsten 3 Wochen würden dann 90 % reserviert und danach 50 %. Angenommen wurde eine Wirk­samkeit des Biontech/Pfizer-Impfstoffs von 52,4 % nach einer Einmaldosis mit einem Wirkungsverlust von 0,9 % pro Woche.

Unter der Bedingung einer konstanten Impfstoffversorgung von 6 Millionen Dosen pro Woche würde die flexible Strategie nach den Berechnungen von Salomon zu etwa 23 bis 29 % weniger COVID-19-Fällen führen als die derzeitige Strategie, die die Hälfte der Impfstoffmenge für die zweite Dosis zurückhält. Weitere 27 bis 32 % der COVID-19-Fälle würden verhindert, falls sich die Menge der verfügbaren Impf­stoffe infolge von Lieferschwierigkeiten halbieren würde.

In weiteren Szenarien haben die Forscher einige Faktoren in die Rechnung einfließen lassen, die die flexible Strategie benachteiligen würden. Dies wäre bei einem stärkeren Rückgang der Impfstoffversor­gung der Fall oder bei einem schnelleren Nachlassen der Schutzwirkung, wenn der Nachschub für die zweite Dosis ausgehen sollte. Die flexible Strategie würde nach den Berechnungen von Salomon den­noch fast immer ein besseres Ergebnis liefern. Einzige Ausnahme war das Szenario, in dem die Wirksam­keit der Impfung nach 6 Wochen stark nachlässt und Lieferengpässe eine zweite Impfung verhindern.

Die Berechnungen gelten nur für die Bedingungen in den USA. Auf die Verhältnisse in Europa oder Deutschland lassen sie sich nicht 1 zu 1 übertragen. Zu bedenken ist ferner, dass eine Impfung nur dann eine Wirkung erzielt, wenn sie von der Bevölkerung angenommen wird. Thomas Bollyky vom „Council on Foreign Relations“, einer Denkfabrik in Washington, gibt in einem Editorial zu bedenken, dass die Impfbereitschaft in der Bevölkerung schwach ist (Annals of Internal Medicine 2021).

Sie könnte weiter sinken, wenn ihr offiziell eine weniger effektive Impfung angeboten werde. Eine „Streckung“ der Impfung wäre aus Sicht des Politikberaters nur dann zu vertreten, wenn ein echter Impfstoffmangel besteht, wenn also auf Dauer nicht alle Menschen geimpft werden könnten. Hiervon kann laut Bollyky jedoch nicht die Rede sein, da die meisten reicheren Länder sich ausreichend mit Impfstoffen eingedeckt hätten.

Ruanne Barnabas von der Universität des Bundesstaates Washington in Seattle spricht sich dagegen in ihrem Beitrag (Annals of Internal Medicine 2021) für eine Einmalimpfung aus, da sie die effektive Reproduktionszahl am schnellsten auf unter 1 senkt (was zum Abflauen der Epidemie notwendig ist). Die Forscherin hält die Einmalimpfung auch ethisch für den richtigen Weg, da weniger Menschen auf einen späteren Termin vertröstet werden müssten.

Die häufigeren Nebenwirkungen nach der zweiten Dosis könnten zudem dazu führen, dass die anfäng­liche Impfbereitschaft in der Bevölkerung rasch nachlässt. Die geringere Schutzwirkung einer Einmal­impfung würde auch sicherstellen, dass sich die Bevölkerung weiter an Abstandsregeln und Masken­pflicht halte, meint die Public-Health-Forscherin.

Bundesgesund­heitsminister Jens Spahn (CDU) sagte gestern in Berlin zur Möglichkeit, die Zeit bis zur zweiten Impfung zu strecken, man lasse die Daten von der Ständigen Impfkommission anschauen, aber die ersten Rückmel­dungen wiesen daraufhin, dass man bei der Zulassung und dem, was in der Zulassung steht, bleiben solle.

Quelle: rme/aerzteblatt.de

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