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Ethik der Digitalisierung

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Ergebnispräsentation des Projekts „Ethik der Digitalisierung“ am 7. Februar 2022 in Berlin:

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue – hier vor Ort und zugeschaltet von vielen Orten in Deutschland und auf der ganzen Welt.

Als wir im Jahr 2019 angefangen haben, über dieses Projekt nachzudenken, war es für die meisten von uns noch nicht Alltag, sich zu Video- oder Telefonkonferenzen zusammenzuschalten. Livestreams mit dem Bundespräsidenten waren die Ausnahme, nicht die Regel. Und Fragen hat das Publikum vor Ort gestellt, nicht über digitale Tools. Seitdem hat die Pandemie uns zumindest in dieser Hinsicht einen kräftigen Digitalisierungsschub verpasst, ob wir es wollten oder nicht, und damit sind wir auch schon mitten in unserem heutigen Thema.

Unsere Welt wird immer digitaler, und viele Menschen haben in den vergangenen Jahren erlebt, was das für die eigene Lebenswelt bedeuten kann. Erst letzten Donnerstag war ich bei einer Konferenz von Betriebsräten, organisiert von einer großen deutschen Gewerkschaft. Ich habe gesehen und erlebt, wie dort über die Digitalisierung der Arbeitswelt debattiert wurde – und das hat mich an die Ursprünge dieses Projekts erinnert: an die Forderung nach einer Ethik der Digitalisierung, die uns Halt und Richtung geben soll im digitalen Wandel von Wirtschaft und Wissenschaft, von Debatte und Demokratie, von Gesellschaft und Zusammenleben.

Das Projekt „Ethik der Digitalisierung“ entstand aus dieser Forderung, über die ich mit vielen Menschen diskutiert habe – in Deutschland und auf Auslandsreisen, bei den Gewerkschaften und auf einem Kirchentag, in Gesprächen in den USA und in China und bei vielen anderen Gelegenheiten. Ich bin davon überzeugt: Wenn es etwa um künstliche Intelligenz oder die Frage der digitalen Selbstbestimmung geht, wenn so wichtige ethische Fragen offen sind, dann muss unser Blick über den nationalen Tellerrand hinausreichen.

Die Debatte über die digitale Moderne findet darüber hinaus in öffentlichen Räumen statt, die selbst mitten im digitalen Strukturwandel stehen. Gerade die sozialen Medien bieten eben keinen idealen Debattenraum, solange extreme Meinungen automatisch besonders große Aufmerksamkeit genießen dürfen. Wenn Gruppen sich immer mehr voneinander abschließen und wenn Vernunft als schlecht verwertbare Langeweile gilt, dann werden echte Debatten immer schwerer.

Ja, die Logik der sozialen Medien wird von innen wie auch von außen gezielt ausgenutzt, um Desinformation und Propaganda zu verbreiten – gerade jetzt, rund um den Konflikt an der russisch-ukrainischen Grenze sehen wir viel davon. Aber die strukturellen Verwerfungen der digitalen Öffentlichkeit sind vor allem hausgemacht – durch konkrete demokratiepolitische Versäumnisse: Versäumnisse bei der digitalen Aufklärung, Versäumnisse im Umgang mit denen, die sich mit digitalen Mitteln gegen die Demokratie wenden, und Versäumnisse der den Markt beherrschenden digitalen Plattformen. Diese Versäumnisse schaden dem öffentlichen Raum – und die Demokratie wird zum Kollateralschaden des Geschäftsmodells.

Ich bin froh, dass die Fellows des Projekts auch diesen Fragen, etwa der Frage nach der automatischen Moderation von Inhalten auf großen Plattformen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Und, das will ich an dieser Stelle gerne hinzufügen, ich begrüße die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall von Renate Künast ausdrücklich. Es ist eine Entscheidung, die aus meiner Sicht wichtige Gesetzgebung der letzten Jahre ergänzt und den Bewertungsmaßstab für Hass und Angriffe im Netz klarstellt. Niemand muss es tatenlos ertragen, im Netz beschimpft und beleidigt zu werden, auch keine Politikerin und kein Politiker. Jeder muss sich im Zweifel zur Wehr setzen können.

Das gilt gerade dann, wenn digitale Plattformen als Schutzräume missbraucht werden, um zum Beispiel gegen ehrenamtliche Kommunalpolitikerinnen und engagierte Bürgermeister zu hetzen, wie wir es in diesen Wochen und Monaten nur allzu häufig erleben. Wenn das blindwütige Gebrüll einiger weniger die vernünftige Mehrheit aus dem öffentlichen Raum verdrängt, wenn die Wahrnehmung öffentlicher Ämter vor Ort immer unerträglicher wird, dann vergiftet das die Demokratie an der Wurzel. Und das dürfen wir nicht zulassen.

Unser demokratischer Rechtsstaat funktioniert – das ist gut. Noch besser wäre es, wenn die großen Plattformen ihrer eigenen Verantwortung für die Demokratie endlich aus eigenem Antrieb heraus gerecht würden. Bloß weil das Unsägliche täglich, ja sekündlich geschieht, dürfen wir es niemals als Normalität akzeptieren. Wir dürfen es niemals zulassen, dass Menschen im digitalen Dauerfeuer jeden Schutz verlieren!

Für die viele Arbeit in den letzten beiden Jahren an diesem Projekt danke ich dem Network of Centers, den tragenden Instituten und besonders den dort Beteiligten ganz herzlich. Ich danke der Stiftung Mercator ebenso herzlich für die Unterstützung des Projekts. Und vor allem danke ich den 151 Fellows, den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 51 Ländern. Sie haben während der Arbeitsphasen ganz unterschiedliche Themen bearbeitet. Der Ergebnisbericht, der gleich übergeben wird, zeugt davon, wie fruchtbar das gemeinsame Nachdenken vieler kluger Köpfe aus der ganzen Welt war.

Ich will nicht verschweigen, dass es auch Kritik an diesem Projekt gab. Warum, haben manche gefragt, organisieren wir lieber globale Debattenrunden über Ethik, statt uns mit der digitalen Innovationsfähigkeit hier in Deutschland zu befassen? Wahr ist: Ja, Deutschland und Europa haben digitalen Nachholbedarf. Wenn es um die Datenökonomie geht, um kluge digitale Geschäftsmodelle im Massenmarkt, dann sind deutsche und europäische Firmen oft Nachzügler. Auch bei der Digitalisierung des Staates bleibt viel zu tun, von Schulen bis zu den Gesundheitsämtern. Darüber habe ich in den letzten beiden Jahren bei vielen Gelegenheiten gesprochen.

Wahr ist aber auch: Nur wenige können bei der Digitalisierung von Industrie und Fertigung mit deutschen Firmen mithalten. Bei den Basistechnologien der digitalen Moderne, in Mikroelektronik und Halbleiterproduktion, ist Deutschland Teil der globalen Spitze.

Viel wichtiger als solche Ländervergleiche ist mir aber: Ethik und Innovation dürfen keine Frage von Entweder-oder sein. Ein guter Wettbewerb um die besten Ideen, um die klügsten Anwendungen und die smartesten Produkte entsteht nur dann, wenn die Rahmenbedingungen klar gefasst sind. Kaum jemand will doch in dystopischen Verhältnissen leben, kontrolliert von Algorithmen oder bedroht von autonomen Waffensystemen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Wenn wir aber einen weltweiten Wettbewerb hin zum geringstmöglichen Standard vermeiden wollen, dann brauchen wir die Debatte über ethische Standards, und wir brauchen sie an möglichst vielen Orten der Welt.

Ich weiß, dass dieses Ziel nach wie vor ambitioniert ist. Unterschiede in der Digitalpolitik sind vielleicht noch größer geworden, wie etwa der Blick nach China zeigt. Aber ich freue mich darüber, dass die neue amerikanische Regierung den Austausch mit Europa sucht. Und ich freue mich ebenso, dass auf europäischer Ebene mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act inzwischen sehr konkrete, grundlegende Gesetze zur weiteren Ausgestaltung unserer digitalen Zukunft auf dem Weg sind.

Europa, so scheint mir, ist in diesen Tagen dabei, seinen Weg zu finden. Was folgt aus all dem, wenn man auch die Perspektiven Asiens, Afrikas und Südamerikas mit ins Bild holt? Eine Frau, die uns bei der Suche nach einer Antwort helfen kann, ist Malavika Jayaram. Ich freue mich sehr, Sie hier bei uns in Bellevue zu begrüßen. Sie sind Juristin, haben in Europa, den USA, in Brasilien und Indien zu rechtlichen Fragen der Digitalisierung geforscht. Heute leiten Sie den Digital Asia Hub in Singapur, eine Einrichtung, die dieses Projekt mitgestaltet hat. Wer könnte besser über eine internationale Ethik der Digitalisierung nachdenken als Sie? Danke, dass Sie die Mühen der Anreise hier nach Berlin auf sich genommen haben, um heute bei uns zu sein. Wir alle sind gespannt auf Ihre Ergebnisse.

Ebenfalls begrüßen möchte ich Sandra Cortesi. Sie ist an der Universität Harvard die Direktorin des „Youth and Media“-Projekts am Berkman Klein Center for Internet and Society. Das Berkman Klein Center war in diesem Projekt der Knotenpunkt jenseits des Atlantiks. Frau Cortesi, Sie sind Psychologin und interessieren sich vor allem für das Verhalten und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unter den Vorzeichen der Digitalisierung. Ich freue mich, dass Sie diese Perspektive heute mit an unseren Tisch bringen. Herzlich willkommen.

Schon fast ein alter Bekannter ist Wolfgang Schulz. Sie saßen schon im Sommer 2020 hier, bei der – pandemiebedingt – schon damals hybriden Auftaktkonferenz des Projekts. Ihr Schwerpunkt liegt auf den normativen und rechtlichen Folgen des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit. Sie leiten das Leibniz-Institut für Medienforschung sowie das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft hier in Berlin, und Sie koordinieren gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen an den anderen beteiligten Instituten das Projekt zur Ethik der Digitalisierung. Schön, Sie wieder hier in Schloss Bellevue zu haben, Herr Schulz.

Ich begrüße zuletzt Carla Hustedt, leider nur am Bildschirm. Sie leiten seit dem 1. April vergangenen Jahres den neu geschaffenen Bereich „Digitalisierte Gesellschaft“ der Stiftung Mercator. Die Stiftung Mercator hat dieses Projekt finanziert und die „Ethik der Digitalisierung“ war sozusagen der Einstieg der Stiftung in das Themenfeld Digitalisierung. Nur wenige Institutionen in Deutschland verfügen über ein ähnlich dichtes Netzwerk in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung; deshalb bin ich froh, dass Sie sich dieses Themas annehmen. Ich bin gespannt auf Ihre Einschätzung der Ergebnisse des Projekts – und auf die nächsten Schritte, die darauf folgen werden.

Zum Schluss und ohne den Ergebnissen vorzugreifen, steht für mich eines fest: Das Nachdenken über unser Verhalten, unsere Grenzen und unsere Wünsche im digitalen Raum ist niemals mit einem Projekt erledigt. Im Gegenteil: Das Nachdenken über die Ethik der Digitalisierung wird – und muss! – uns noch viele Jahre begleiten – denken wir nur an die bevorstehenden Innovationen in den Bereichen der künstlichen Intelligenz, der virtuellen Realität oder der sich verändernden Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir alle diese Debatte weiterhin führen – nicht nur zu Hause, in den eigenen Gesellschaften, sondern wo immer es geht weltweit, auf dem Weg zu einer hoffentlich globalen Verständigung über die Ethik der Digitalisierung.

Jetzt freue ich mich auf die Vorstellung der Projektergebnisse und auf unsere Diskussion.

Text: Bundeskanzler Steinmeier