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27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar 2017 – Ansprache von Sigrid Falkenstein

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren!

"Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern.“                                                Diese Botschaft hat mir die Autorin und Bildhauerin Dorothea Buckmit auf den Weg gegeben. Dorothea, die im April hundert Jahre alt wird, war neunzehn, als man sie als angeblich erbminderwertigen Menschen zwangssterilisierte. Sie ist eine der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen und bis heute eine unermüdliche Kämpferin für eine menschliche Psychiatrie. Meine Hochachtung!

Es ist nun an uns Nachgeborenen, die Erinnerung wach zu halten, denn es gibt kein Verständnis von Gegenwart und Zukunft ohne Erinnerung an die Vergangenheit. Hunderttausendfacher Massenmord an wehrlosen kranken und behinderten Menschen, ausgeführt von denjenigen, die sie schützen, heilen und pflegen sollten! Die Opfer waren keine anonyme Masse, sondern einzelne Menschen, die lachten oder weinten, fröhlich oder traurig waren und wie wir alle Hoffnungen und Träume hatten. Die Erinnerung an sie war jahrzehntelang ausgelöscht, auch in vielen Familien –Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses von Verdrängen, Vertuschen und Verleugnen der Verbrechen.

Es war ein Schock für mich, als ich 2003 per Zufall den Namen meiner Tante Anna Lehnkering auf einer Liste von Opfern der NS-„Euthanasie“ im Internet fand. Als ich meinen Vater, Annas jüngeren Bruder, mit der Entdeckung konfrontierte, bemühte er sich um Antworten, aber der Erinnerungsprozess schien schwierig und schmerzhaft zu sein. Nun sprach er zum ersten Mal über seine Schwester: „Änne (so nannte er sie) war ein liebes, sanftmütiges Mädchen. Sie hat so gerne mit uns Kindern gespielt. Ja, das Lernen ist ihr schwergefallen.“ Ihre Spur verlor sich in Formulierungen wie: „Sie wurde irgendwann in den dreißiger Jahren in irgendeine Anstalt gebracht und ist irgendwo während des Krieges gestorben.“ Fassungslos über dieses scheinbare Vergessen begab ich mich auf Spurensuche und rekonstruierte Annas Biografie aus dem bruchstückhaften Familiengedächtnis und vor allem mit Hilfe von Patientenakten und anderen amtlichen Dokumenten.

Anna kam 1915 zur Welt. Laut Akte entwickelte sie sich bis zum vierten Lebensjahr normal. Dann bemerkten die Eltern, dass sie unruhig und schreckhaft wurde. Ein Arzt stellte fest: „Das Kind ist sehr nervös und bedarf guter Ernährung und viel Ruhe.“ Über Annas schulischen Werdegang heißt es: „Wurde von der Volksschule nach kurzer Zeit der Hilfsschule überwiesen. Versteht alles, was man ihr sagt. Das Mädchen ist charakterlich gutmütig, willig, folgsam und verträglich. Kann lesen, schreiben und rechnen, das letztere nur sehr schlecht. " Aufgrund ihrer Lernbehinderung kann Anna keine Berufsausbildung machen. Doch, so steht es in der Akte: „Zu Hause kann sie ganz gut mithelfen. Kann auch Besorgungen und Einkäufe erledigen.“ Nach der Schulzeit lebt sie weiter im Elternhaus und hilft ihrer Mutter im Haushalt.

Ich fand nur wenige Fotos von Anna. Eins gefällt mir besonders gut, weil sie darauf so unbeschwert in die Kamera lacht.Es fällt schwer, eine Verbindung zwischen diesem jungen Mädchen und dem kurz darauf erlassenen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses herzustellen. Es hat zur Folge, dass Anna sich 1934 einer fragwürdigen Intelligenzprüfung unterziehen muss. Begriffe wie Treue, Frömmigkeit oder Ehrerbietung kann sie nicht erklären, aber sie kennt die Preise der gebräuchlichen Lebensmittel und die Geldsorten - was doch viel wichtiger ist. Als sie gefragt wird, "Was darf man mit gefundenen fünfhundert Reichsmark machen?“, antwortet sie ganz lebenspraktisch: „Auf dem Amt abgeben.“ Das Ergebnis der amtsärztlichen Überprüfung lautet, dass es sich in Annas Fall um angeborenen Schwachsinn handele, eine damals übliche Bezeichnung für geistige Behinderung. Damit gilt sie nach der Erb-und Rassenideologie als Schädling im gesunden Volkskörper. Anna ist eine von mehreren hunderttausend Menschen, die zwangssterilisiert werden, weil sie „anders“ sind, nicht der gewünschten gesellschaftlichen Norm entsprechen. Viele werden später im Rahmen der „Euthanasie“-Aktionen ermordet.

1936 erfolgt Annas Einweisung in die Heil-und Pflegeanstalt Bedburg-Hau. Die Einträge in der Patientenakte sind in einer teils menschenverachtenden Sprache verfasst. Zwischen den Zeilen kann man lesen, wie verzweifelt Anna gekämpft und gelitten hat. Am Ende erinnert nichts mehr an das Mädchen, das nur wenige Jahre zuvor so fröhlich und lebensbejahend in die Kamera geschaut hatte.

Annas Todesurteil ist ein bürokratischer Akt. Sie erfüllt die Selektionskriterien ihrer Mörder sozusagen perfekt: gilt als unheilbar, ist lästig -so steht es wörtlich in ihrer Akte -und vor allem leistet sie keine produktive Arbeit, ist also eine sogenannte nutzlose Esserin, als lebensunwert zur Vernichtung bestimmt. Im März 1940 wird Anna im Rahmen der „Aktion T4“ nach Grafeneck deportiert. Grafeneck –Ort, an dem die systematisch-industrielle Vernichtung von Menschen begann, die letztlich in den Holocaust mündete. Anna ist vierundzwanzig Jahre alt, als sie dort in einer als Duschraum getarnten Gaskammer ermordet wird.

Wochen später erhält ihre Mutter einen so genannten Trostbrief, in dem Todesursache und -zeitpunkt gefälscht sind.Ob sie wirklich geglaubt hat, vielleicht glauben wollte, dass der Tod –so wie im Brief vorgetäuscht -bei der schweren unheilbaren Erkrankung ihrer Tochter eine Erlösungbedeutet hatte? Ich weiß es nicht.

Bis 2003 sprach niemand in unserer Familie über Anna. Die Sprachlosigkeit hatte vermutlich viel mit Scham zu tun. Abwertung und Ausgrenzung psychisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen gehörten zu den prägenden Lebenserfahrungen meines Vaters. Seine gesamte Familie war in die Maschinerie der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik geraten. Das belegt eine Sippentafel, in der vierundzwanzig Familienmitglieder erfasst sind. Unter anderem sind Körperbautypen, körperliche und seelische Erkrankungen oder soziales Verhalten registriert. Die absurde Aufzählung der Charaktereigenschaften reicht von liederlich, leichtsinnig, eigenartigbis hin zu gutmütigund intelligent. Außer Anna werden noch andere Verwandte der erblichen Minderwertigkeitverdächtigt. Es ist offensichtlich, dass die Informationen zum Teil auf Denunziation und Hörensagen beruhen.

Egal wie wahr oder unwahr die Eintragungen sein mögen, für mich zeigt die Sippentafel, dass meine Familie eine bunte Mischung von Individuen ist, mit verschiedenen Anlagen und Neigungen, geprägt von zahlreichen äußeren Einflüssen. Und wie in jeder Familie gibt es Mitglieder, die gesundheitliche Schwächen haben. Das ist kein Makel! Es ist weder ein Grund zur Scham noch zum Verschweigen und schon gar keine Rechtfertigung für das unermessliche Leid, das den Opfern zugefügt wurde.

Das sagt sich für mich so leicht. Für die Generation der unmittelbar Betroffenen sah das anders aus. Die Opfer, die Überlebenden und ihre Familien wurden auch nach Kriegsende in beiden deutschen Staaten weiterhin diskriminiert und stigmatisiert. Im Gegensatz dazu konnten die meisten Täter ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen. Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung geschah äußerst stockend und völlig unzureichend. Die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation waren jahrzehntelang vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen. Eine Anerkennung als NS-Verfolgte und Gleichstellung mit anderen Verfolgtengruppen wird ihnen bis heute versagt.

Die Folge von all dem war und ist in vielen Familien ein Teufelskreis von Schweigen, Verdrängen und Tabuisierung des Themas, verbunden mit Unsicherheit und Scham, ja, manchmal auch mit Schuldgefühlen. Hatte es an der Bereitschaft, am Mut oder der Möglichkeit gefehlt, die Tochter, den Sohn, die Schwester, den Bruder vor dem Zugriff der Mordbürokratie zu bewahren?

Meine Großmutter litt später an schweren Altersdepressionen. Es ist zu vermuten, dass das Verdrängen ihrer traumatischen familiären Erfahrungen eine große Rolle dabei spielte.Schweigen macht krank. Es kann heilsam sein, über das Erlebte zu sprechen.

2009 wurde ein Stolperstein für Anna verlegt. Ich spürte die Aufregung meines fast neunzigjährigen Vaters, als er sich, ganz blass vor Anspannung und sehr um eine aufrechte Haltung bemüht der öffentlichen Aufmerksamkeit stellte. Am Tag der Stolpersteinverlegung bekannte er erstmalig: „Ich hatte eine Schwester, die geistig behindert war.“ Er starb wenige Wochen danach, und es ist ein tröstlicher Gedanke, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit für ihn nicht nur belastend, sondern hoffentlich ein Stück weit befreiend war.

Anna ist unvorstellbares Unrecht geschehen –das Totschweigen ihrer Vernichtung war Teil dieses Unrechts. Sie hat heute einen festen Platz im Familiengedächtnis. Das war unter anderem möglich, weil ich ihren Namen auf einer nach deutschem Recht illegalen Liste gefunden habe. Noch erschwert die Gesetzeslage die öffentliche Nennung der Namen von „Euthanasie“-Opfern. Eine der Begründungen lautet, Familienangehörige könnten sich dadurch stigmatisiert fühlen. Eine Argumentation, die an rassenhygienische Denkmuster anknüpft! Es ist an der Zeit, diese unheilvolle Kontinuität zu durchbrechen und die Namen der Opfer zu nennen, um sie in das familiäre und kollektive Gedächtnis zu holen. Es wäre zugleich ein Beitrag zur Entstigmatisierung von Menschen, die heute von Behinderung oder psychischer Erkrankung betroffen sind.

Inzwischen gibt es zahlreiche positive Anzeichen für eine Änderung der deutschen Erinnerungskultur. Davon zeugen die Gedenkstätten an den Orten der Tötungsanstalten, der Erinnerungsort an der Tiergartenstraße 4, das Bemühen um Aufarbeitung innerhalb der Ärzteschaft, unzählige bürgerschaftliche Initiativen und vieles mehr. All das ermutigt immer mehr Menschen, ihre Familiengeschichten aufzuarbeiten und ihren ermordeten Angehörigen Namen und Gesicht wiederzugeben.

Auch in der Politik findet die Forderung nach Würdigung der „Euthanasie“-Opfer zunehmend Gehör. Das zeigt nicht zuletzt die heutige Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Es ist ein besonderes, ja, vielleicht historisches Ereignis, dass wir an diesem für unsere Geschichte so bedeutsamen Ort an Anna Lehnkering, Benjamin Traub und Ernst Putzki erinnern. Wir nennen ihre Namen stellvertretend für die vielen namenlosen Opfer und geben ihnen damit etwas von ihrer Identität und Würde zurück. Ein Akt später Gerechtigkeit -für die Opfer nur noch ein symbolischer Akt!

Was also bleibt außer Gedenken und Trauer? Es ist wichtig, viele Geschichten wie die von Anna zu erzählen, denn es sind Einzelschicksale, die abstraktes historisches Geschehen begreifbar machen, im besten Fall die Herzen der Menschen berühren und dadurch etwas in den Köpfen bewegen.

Ich erzähle Annas Geschichte, damit wir genau hinsehen, hinhören und widersprechen, wenn einzelne Menschen oder Gruppen nach ihrer Nützlichkeit, ihrem vermeintlichen Wert oder Unwert bemessen werden.

Ich erzähle ihre Geschichte, weil sie uns Orientierung geben kann bei der Gestaltung einer Gesellschaft, die Respekt hat vor dem menschlichen Leben in all seiner Verschiedenheit und Unvollkommenheit.

In diesem Sinne möchte ich schließen mit den Worten von Max Mannheimer, einem Überlebenden der Shoa:„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“

Bulletin 10-2