Zum Inhalt springen
OZD.news - News und Nachrichten zum Nachschlagen

Rede von Kanzlerin Merkel zur Conférence des Organes Spécialisés dans les Affaires Communautaires

Ich bedanke mich ganz besonders beim Deutschen Bundestag und beim Europaausschuss für die Organisation dieser Veranstaltung, die wir uns wie auch unsere gesamte EU-Ratspräsidentschaft natürlich anders vorgestellt hatten.

Montag, 30. November 2020 in Berlin

Lieber Gunther Krichbaum,
lieber Guido Wolf und
liebe Kolleginnen und Kollegen in den europäischen Hauptstädten,

ich freue mich sehr, heute hier mit dabei zu sein. Ich bedanke mich ganz besonders beim Deutschen Bundestag und beim Europaausschuss für die Organisation dieser Veranstaltung, die wir uns wie auch unsere gesamte EU-Ratspräsidentschaft natürlich anders vorgestellt hatten. Die Präsidentschaft ist von der Pandemie geprägt; das ist einfach so. Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Wir hatten uns schon seit langem das Motto gegeben: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ ‑ Das passt sehr gut zu dieser Pandemie.

Ich will damit beginnen, zu sagen, dass wir über die Monate besser gelernt haben, gemeinsame Wege aus der Krise zu finden. Die Kommission hat eine Vielzahl an Initiativen insbesondere auch zur Impfstoffbeschaffung unternommen. Auch die Gesundheitsagentur ECDC wird inzwischen sehr viel besser mit Daten und Fakten beliefert. Man hat eine einheitlichere Berichterstattung. Wir haben aber noch viel zu tun. In der Pandemie hat sich der Wunsch der Europäischen Kommission gezeigt, trotz nicht primärer Zuständigkeit doch eine koordinierende Funktion zu erfüllen und schrittweise auch so etwas wie eine Gesundheitsunion aufzubauen. Wir haben im Europäischen Rat damit begonnen, uns in Videokonferenzen in kürzeren Abständen über die jeweilige pandemische Lage auszutauschen. Die Gesundheitsminister haben das von Anfang an sehr, sehr intensiv getan, aber wir tun es jetzt auch auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, weil es ansonsten einfach ein bisschen verquer wäre, wenn man sich 80 Prozent des Tages mit der Pandemie beschäftigt, aber im Europäischen Rat kaum darüber sprechen würde. Ich muss auch sagen, dass dieser Austausch immer sehr lehrreich ist.

Wir haben gesehen, dass diese Pandemie mit fürchterlichen Verwerfungen auch in unserer Wirtschaft einhergeht. Sie war am Anfang auch eine Störung für den Binnenmarkt, weil man von einem Tag auf den anderen Grenzkontrollen eingeführt hat. Lange Schlangen von Lkw waren die Folge. Daraus haben wir gelernt; und das haben wir jetzt in der zweiten Welle, wie man sieht, verhindert. Aber wir werden noch jahrelang ‑ so würde ich voraussagen ‑ an den ökonomischen Folgen dieser Krise zu arbeiten haben. Natürlich sind gerade auch die Länder, die über viele Jahre Reformprogramme durchgeführt haben ‑ ich nenne als Beispiel Portugal ‑ und die gerade auf dem Niveau angekommen waren, dass die Neuverschuldung bei null lag und dass man wieder zuversichtlich nach vorn schauen konnte, schwer getroffen von diesem wirtschaftlichen Einbruch. Wir müssen schauen, dass wir aus der Krise herauskommen. Sicherlich sind alle ökonomisch betroffen, aber doch so, dass die Konvergenz, die Kohäsion innerhalb der Europäischen Union nicht völlig auseinandergerät.

Was wir mit der Pandemie erleben, ist meiner Meinung nach ein Jahrhundertereignis. Deshalb muss man neue Mittel und Wege finden, um darauf zu reagieren. Das haben wir getan, indem wir neben den Arbeiten am Mehrjährigen Finanzrahmen auch den Recovery Fund „Next Generation EU“ konstruiert haben und dieses Aufbauinstrument jetzt mit Leben erfüllen wollen. Der Europäische Rat hat sich im Juni geeinigt, das Europäische Parlament hat Diskussionen darüber geführt, aber wir stehen heute an einem Punkt, an dem wir leider noch nicht abstimmen können, weil Ungarn und Polen noch Vorbehalte gegen den sogenannten Konditionalitätsmechanismus haben, bei dem es auch um die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien im Zusammenhang mit den finanziellen Ausgaben der Europäischen Union geht. Ich hoffe, dass wir hierfür noch eine Lösung finden. Wir bemühen uns zumindest darum. Das wäre ein ganz wichtiges Signal. Aber ich kann noch nicht sozusagen die Erledigung der Aufgabe melden, obwohl ich es gern täte.

So ist es mit vielen Projekten in unserer Präsidentschaft. Wir werden bis zum letzten Tag arbeiten müssen. Es kann heute nur eine Zwischenbilanz sein. Denn wir haben am 10. und 11. Dezember noch einmal einen sehr wichtigen Rat. Auf diesem Rat werden hoffentlich noch einmal gute Entscheidungen getroffen.

Gunther Krichbaum hat das Thema EU - Großbritannien erwähnt. Seitens der Kommission wird insbesondere von Michel Barnier, dem ich für seine Arbeit ganz herzlich danken möchte, verhandelt. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich hier zunehmend mit eingeschaltet. Wir hoffen, dass es sozusagen noch ein gutes Ende nimmt mit diesen Verhandlungen.

Natürlich werden einige Mitgliedstaaten jetzt langsam unruhig, denn es bleibt nicht mehr sehr viel Zeit. Diese Verhandlungen sind auch hart. In ihnen spielen die Themen Governance und „level playing field“ eine große Rolle. Vielleicht für viele am greifbarsten sind ganz konkrete Fragen: aus britischer Sicht etwa der Zugang zum europäischen Energiemarkt, aus unserer Sicht der Zugang zu den britischen Fischereigründen. Das sind Dinge, die im Vordergrund sehr oft diskutiert werden. Ich wünsche Michel Barnier und gegebenenfalls auch Ursula von der Leyen viel Kraft und viel Geschick für die letzten Verhandlungsschritte. Wir brauchen aber kein Abkommen um jeden Preis; das haben wir deutlich gemacht. Wir wollen ein Abkommen, aber wir werden auch sonst Maßnahmen ergreifen, die notwendig sind. Auf jeden Fall liegt ein Abkommen im Interesse aller.

Ein großes Thema auf dem Rat am 10. und 11. Dezember wird das Thema Klimaschutz sein. Die Kommission ist ja mit ihren Vorschlägen zum Green Deal, mit dem ersten Paket, sozusagen schon an die Öffentlichkeit getreten. Als Ziel ist genannt die Klimaneutralität bis 2050 und als ein ambitioniertes Zwischenziel eine Emissionsreduktion von mindestens 55 Prozent bis 2030. Deutschland unterstützt das Ziel von 55 Prozent Reduktion. Wir haben darüber zum ersten Mal im Oktober beraten, aber die eigentliche Beratung wird im Dezember stattfinden. Es wird noch ziemlich schwierig sein, hierüber ein Einvernehmen herzustellen. Deutschland wird sich aber seiner Verantwortung stellen und die Kommission sowie den Ratspräsidenten Charles Michel sehr dabei unterstützen, zu erreichen, dass wir an dem auf den Rat folgenden Tag, nämlich am Samstag, dem 12. Dezember, bei einer Sonder-UN-Konferenz in der Lage sind, ein ambitionierteres Ziel der EU zu melden. Sie haben sicherlich alle verfolgt, dass sich auch China zu ambitionierten Zielen verpflichtet hat: 2060 CO2-Neutralität; und der Peak vor dem Jahr 2030. Das sind Rahmendaten, die sicherlich sehr ermutigend sind und sicherlich nicht nur von uns, sondern auch von China eine große Kraftanstrengung verlangen.

Wir werden im ersten Halbjahr des Jahres 2021 ‑ etwa Mitte des Jahres 2021 ‑ eine Vielzahl an Rechtsakten der Kommission vorgelegt bekommen und darüber sicherlich auch sehr hitzige Beratungen haben. Wir müssen aber natürlich erst wissen, was sie jeweils für die einzelnen Sektoren bedeuten. Deutschland möchte gern auch sehr stark auf das Preissignal setzen. Wir hätten es gerne, wenn der Emissionshandel auch in den Bereichen Wohnungswirtschaft und Verkehr stattfinden würde. Heute haben wir einen Zertifikatehandel ja nur im Bereich der Industrie.

Wir arbeiten im Übrigen sowohl bei diesem Thema als auch beim Thema Digitalisierung innerhalb der Trio-Präsidentschaft mit Portugal und Slowenien sehr eng zusammen. Bei der Digitalisierung wird das auch wichtig sein, denn viele Rechtsakte kommen erst jetzt zum Ende unserer Präsidentschaft. Wir haben aber auch jetzt schon eine ganze Reihe von Maßnahmen voranbringen können. Anderes kommt aber noch. Hierbei ist für mich zum Beispiel das Thema digitale Identität für die Schaffung eines europäischen Binnendigitalmarktes von allergrößter Bedeutung.

Auch mit der Vorbereitung der Zukunftskonferenz wollen wir vorankommen und diese auch möglichst noch starten; ich hoffe, das gelingt uns noch. Hier sollte aus meiner Sicht nicht die Frage „Vertragsänderung ‑ ja oder nein?“ im Vordergrund stehen, sondern man sollte fragen: Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns? Wenn das zur Folge hat, dass es auch Vertragsänderungen geben muss, dann sollte man sich vor ihnen aber auch nicht verschließen.

Die Kommission hat zum Thema Migration ein umfassendes Vorschlagspaket auf den Weg gebracht. Hier ist unser Innenminister am Werke. Es herrscht, würde ich sagen, ein konstruktives Klima, aber Fortschritte sind sehr, sehr schwer zu erreichen. Das wird sicherlich auch keinen verwundern. Ich glaube trotzdem, dass das Paket der Kommission die richtigen Fragen und Aufgaben adressiert: was sowohl den Außengrenzschutz und die Kooperation mit Herkunftsländern anbelangt, aber auch die Fairness beim Umgang mit ankommenden Migranten und Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union.

Wir haben auch eine Vielzahl an außenpolitischen Themen, die auf dem Dezember-Rat noch einmal eine zentrale Rolle spielen werden. Dazu zählen unter anderem die EU-Türkei-Beziehungen. Dazu hatten wir schon im Herbst eine erste Diskussion; und diese Diskussion werden wir am 10. und 11. Dezember fortsetzen. Leider sind die Fortschritte hier nicht so berichtenswert, wie ich mir das gewünscht hätte. Wir haben sehr viel Kraft auf die EU-Türkei-Beziehungen gelenkt. Es gibt aber eine Vielzahl an Hemmnissen und immer wiederkehrende Schwierigkeiten. Insofern müssen wir jetzt einmal abwarten, wie die Diskussion im Dezember läuft. Diese ist aber bis jetzt nicht so weit vorangegangen, wie ich es mir erhofft hätte.

Was die Beziehungen zu Belarus anbelangt - durch die demokratische Bewegung in Belarus ist doch eine völlig neue Situation entstanden. Wegen der Verquickung der Sanktionsforderungen gab es lange Zeit keine einheitliche Reaktion der EU mit Sanktionen auf die Regierung Lukaschenkos, aber wir haben jetzt doch eine einheitliche Vorgehensweise der ganzen Europäischen Union. Dafür bin ich sehr dankbar.

Genauso bin ich im Zusammenhang mit der Nowitschok-Vergiftung von Herrn Nawalny sehr dankbar für die einheitliche Reaktion der Europäischen Union. Das hat sehr gut geklappt.

Wir werden natürlich auch noch an der Frage unserer zukünftigen Zusammenarbeit mit der nächsten amerikanischen Administration, mit dem President-elect und zukünftigen Präsidenten Biden, arbeiten.

Wir haben uns noch einmal sehr um den westlichen Balkan gekümmert. Hier gibt es Spannungen vieler Art, aber es gibt auch Fortschritte. Der Berliner Prozess hat sich als eine gute Initiative erwiesen, die Ergebnisse zeitigt. Wir haben aber Mühe, die Beitrittskonferenz für Nordmazedonien noch stattfinden zu lassen. Albanien hat sehr große Fortschritte gemacht, aber insbesondere bei Mazedonien ist es fraglich, ob wir das noch rechtzeitig schaffen, denn es gibt hier Diskussionsbedarf zwischen Bulgarien und Nordmazedonien, wie man ja weiß.

Es wird außerdem noch einen reduzierten Afrika-Gipfel am Vorabend des Europäischen Rates, also am 9. Dezember, geben. Naturgemäß können aufgrund der Pandemie Vertreter vieler afrikanischer Länder nicht nach Brüssel kommen. Wir haben deshalb Regionalorganisationen und das Büro der Afrikanischen Union ausgewählt, um mit ausgewählten Teilnehmern des Europäischen Rates zu diskutieren. Unter portugiesischer Präsidentschaft wird im nächsten Halbjahr hoffentlich ein physisches Treffen zwischen der Afrikanischen Union und dem Europäischen Rat stattfinden können.

Last but not least: EU - China. Wir hatten uns vorgenommen, beim Investitionsschutzabkommen voranzukommen, das schon seit 2012 verhandelt wird. Wir hatten eine Videokonferenz mit Präsident Xi, Charles Michel, Ursula von der Leyen und mir. Es wird auch Anfang Dezember noch einmal eine Verhandlungsanstrengung geben - und gegebenenfalls vielleicht eine zweite Videokonferenz. Wie weit wir da kommen, kann ich heute noch nicht sagen; auch da müssen wir noch hart arbeiten.

Das sind die wesentlichen Themen, mit denen wir uns jetzt beschäftigen. Es gibt sicherlich auch noch manches andere mehr. Der Bundesfinanzminister sitzt heute zum Beispiel an einer ESM-Reform, die ja auch noch nicht abgeschlossen ist. Auch andere Ressorts haben natürlich ihre Schwerpunkte gesetzt, so zum Beispiel die Landwirtschaftsminister die neue Agrarpolitik. Jeder Minister ist mit Eifer dabei. Vieles, was wir uns vorgenommen hatten, konnte nicht stattfinden, aber wir profitieren von den Segnungen der Digitalisierung und neuen technischen Möglichkeiten.

Herzlichen Dank.


BPA