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Änderung des Infektionsschutzgesetzes

Rede des Bundesministers für Gesundheit, Jens Spahn, zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes vor dem Deutschen Bundestag am 18. November 2020 in Berlin

Herr Präsident!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Pandemie ist ein Jahrhundertereignis, ein Naturereignis, ja, gleichsam eine Naturkatastrophe. Sie ist eine Zumutung und eine Bewährungsprobe. Sie ist schicksalhaft über uns gekommen in unserer modernen, komplexen Zeit.

In dieser Jahrhundertpandemie ist klar: Egal was wir tun oder ob wir nichts tun, es entsteht Schaden. Egal was wir entscheiden oder ob wir gar nicht entscheiden: Es entsteht Schaden. Die Frage ist: Wo entsteht welcher Schaden? Es geht um wirtschaftlichen Schaden für viele einzelne Bürgerinnen und Bürger und für die Volkswirtschaft; es geht um sozialen Schaden, menschliche Härten und Ausnahmesituationen; es geht um gesundheitlichen Schaden, Leid und Tod. Wir müssen nun gewichten, Prioritäten setzen, abwägen.

Wir müssen nun gewichten, Prioritäten setzen, abwägen und tun dies seit Beginn der Pandemie. Die Wissenschaft kann uns beraten, liefert Fakten und Einschätzungen; aber kein Virologe, kein Infektiologe, kein Mikrobiologe, kein Professor Drosten und auch kein Professor Bhakdi kann uns die Aufgabe abnehmen, diese Entscheidungen zu treffen. Wir im Deutschen Bundestag und in der von ihm legitimierten Regierung müssen gewichten, welchen Schaden wir wo wie ertragen wollen und ertragen können. Der Schutz der Gesundheit gilt dabei nicht absolut. Ja, er ist mit anderen Grundrechten abzuwägen; aber die körperliche Unversehrtheit steht übrigens auch in diesem Grundgesetz, das Sie gerade hochgehalten haben. Ist Ihnen das Leid – davon habe ich gar nichts gehört, Herr Gauland – auf den Intensivstationen, in den Krankenhäusern, in den Familien, von denjenigen, die Langzeitschäden haben, egal? Das ist doch die Frage, die sich stellt.

Der Schutz der Gesundheit gilt nicht absolut; aber wir haben entschieden, dass der Schutz der Gesundheit in dieser Pandemie ein relativ stärkeres Gewicht bekommt. Wir haben uns entschieden, mit großer Mehrheit entschieden, in der Gesellschaft und hier im Parlament, dass wir keine Überforderung unseres Gesundheitssystems akzeptieren wollen. Leid durch Krankheit, Intensivmedizin, Beatmung und Tod können wir zwar nicht absolut vermeiden, aber wir wollen dieses Leid bestmöglich reduzieren. Steigende Infektionszahlen – an dieser praktischen Erkenntnis führt auch die spannendste theoretische Debatte nicht vorbei – führen in unserer alternden Gesellschaft bei den Eigenschaften dieses Virus früher oder später zu steigendem Leid auf unseren Intensivstationen und zum Kontrollverlust bei exponentiellem Wachstum.

Und um das zu vermeiden, müssen die Infektionszahlen runter, und vor allem müssen sie in ihrer Entwicklung unter Kontrolle bleiben. Ja, wir haben mit den aktuellen Maßnahmen Tritt gefasst, wir haben das exponentielle Wachstum gestoppt; aber wir sind noch nicht über den Berg. Und als Bundesminister für Gesundheit sage ich Ihnen, dass ich diese Gewichtung, diese starke Ausrichtung auf bestmöglichen Gesundheitsschutz in dieser Pandemie weiterhin richtig finde.

Da aber nichts absolut gelten kann, auch nicht der Schutz der Gesundheit, geht es um die richtige Balance, das richtige Austarieren. Um diese Balance ringen wir doch alle jeden Tag, jeder in seinem Alltag, wir als Gesellschaft und wir in der politischen Vertretung und Führung dieses Landes. Es geht darum, wirtschaftliche Härten abzufedern und durch Hilfe, Unterstützung, Konjunkturpakete erträglich zu machen. Es geht darum, jeden Tag mehr und besser dieses Virus beherrschen zu können: durch die AHA-Regeln, durch das Reduzieren von Kontakten, durch neue und mehr Testmöglichkeiten und immer bessere Schutzkonzepte, durch neue und bessere Medikamente, und ja, als entscheidenden Schritt zur tatsächlichen Kontrolle über dieses Virus vor allem auch durchs Impfen. Und weil ja schon wieder anderes behauptet wird, auch in den sozialen Medien: Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben. Hören Sie endlich auf, anderes zu behaupten!

Gleichzeitig macht es doch Mut, es gibt Zuversicht – es ist Licht am Ende des Tunnels –, dass wir in diesen dunklen Novembertagen ernsthaft damit rechnen können, dass es so schnell einen Impfstoff geben wird wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Impfen ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Impfen vermeidet jeden Tag unzähliges Leid und Krankheit. Impfen ist Fortschritt im besten Sinne, und es macht mich ein Stück stolz, dass der erste Impfstoff, der Wirksamkeit zeigt, aus Deutschland kommt und hier entwickelt worden ist.

Wir sind bis hierhin gut durch diese Krise gekommen – im Vergleich mit der Situation in anderen Ländern, auch in dieser zweiten Welle. Und ich frage mich manchmal schon: In welchem anderen Land wären Sie eigentlich lieber? Keines unserer Nachbarländer hat mit milderen Mitteln diese Pandemie unter Kontrolle bekommen. Wo wären Sie eigentlich lieber als in der Bundesrepublik Deutschland? Das würde mich manchmal schon interessieren.

Dass wir bis hierhin vergleichsweise gut durch diese Pandemie gekommen sind, auch in dieser zweiten Welle, ist vor allem so, weil die allermeisten Bürgerinnen und Bürger auf sich und ihre Mitmenschen achten und sie schützen, und es ist so, weil die große Mehrheit der Deutschen unsere Politik mitträgt.

Und ja, nicht wenige zweifeln, hadern, haben Sorgen oder Bedenken. Und doch tragen auch sie in großer Mehrheit den grundsätzlichen Ansatz unserer Politik und die Entscheidungen mit.

Und ja, laut sein, dagegen sein, sogar das Offensichtliche leugnen – all das ist möglich und muss möglich sein in einem freien, offenen Land. Aber wer laut ist, ist deswegen noch lange nicht im Recht und schon gar nicht nur wegen seiner Lautstärke in der Mehrheit.

Debatte ist nötig, Kontroverse ist nötig, aber doch nicht unerbittlich und voller Härte, sondern so, dass wir zusammenbleiben. Zusammenhalt ist das, was dieses Land am meisten braucht in dieser Pandemie. Ihre Rede war jedenfalls kein Beitrag zum Zusammenhalt in diesem Land, Herr Gauland.

Wir wollen weiter gut durch diese Krise kommen. Dafür müssen wir uns immer wieder der Lage anpassen. Das Virus ist dynamisch; wir müssen es auch sein. Daher nun das dritte Bevölkerungsschutzgesetz in neun Monaten, das uns in dynamischer Lage die rechtliche Grundlage gibt, mit diesem Virus noch besser umzugehen. Wir als Bundesregierung und die Landesregierungen brauchen in dieser Pandemie die Befugnisse und Instrumente, zu handeln und zu entscheiden – zum Schutz und zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger. Diese Befugnisse und diese Instrumente können uns nur von dem vom deutschen Volk gewählten Bundestag gegeben werden, und darum bitten wir Sie heute.

Bulletin 126-1

Titelbild Jens Spahn © BMG