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Ich bin eine Distel – wie schön

Wenn man das Thema nur andeutet, kommen gleich Gedanken an Umweltschutz, der richtiger Naturschutz oder noch besser Securare honosapiensis heißen sollte, in den Sinn. Dabei können Pflanzen so viel mehr als Photosynthese.

Dass Pflanzen CO2 verwandeln können, ist ein faszinierendes Geheimnis, das zwar mit dem Zytratzyklus gelüftet werden kann, aber an dieser Stelle zu weit führen würde. Der Umstand an sich, das Kohlenstoffverbindungen (CO2) in Sauerstoff (Wasserstoff und Oxid/Luft H2O) transformiert wird, ist aber den meisten bekannt.

Meines Erachtens liegt jedoch die wahre Kraft der Natur neben diesem lebensnotwendigen Prozess im Agens als Lebenskraftspender für die Seele. Nein, ich beabsichtige an dieser Stelle keinen transzendentalen Exkurs, keine Sorge. Die Pflanze schafft es jedoch, im Gegensatz zum Menschen, täglich beim Prozess der Veränderung des stetigen Wandels, beobachtbar zu bleiben. Gewiss, das kann man bei Babys auch, und in der Tat hat die Möglichkeit des Beiwohnens von Kindheit einen ähnlich heilenden Einfluss auf die Involvierten. Leben ist Veränderung und Wandel. Ausgehend von dem sich stetig differenziert und dennoch in einem gewissen Sinne gleichen Explorationsdrang sämtlicher Naturgegebenheiten seit Anbeginn, als es sie ausschließlich gab, wurde das menschliche Gehirn daraufhin geschult, dass nichts so bleibt wie es ist. Es würde uns also negativ auffallen, wenn der Baum nicht wüchse oder einginge. Vielleicht fühlen wir auch deshalb den Drang, von Zeit zu Zeit die eigenen vier Wände umzugestalten, oder freuen uns gar, wenn es Abnutzungsspuren erlauben, ein Möbel den ewigen Jagdgründen zuzuführen, weil wir den Dauerzustand der „Nichtveränderung“ nicht ertragen könnten.

Und dieser Urzustand des Nichtzustands, das stetige Sein in seiner stetigen Veränderung, macht uns jedes Lebendige immer sichtbar und zugänglich. Die Pflanze lädt uns dazu ein, sich mit dem Alpha und Omega des Seins auseinander zu setzen. Die Pflanze entspringt dem Samen, wächst und wandelt sich unter anderem über den Einfluss der Gezeiten zu voller Blüte und vergeht wieder in sich, um dann als neues „Wesen“ wieder zu erblühen.

Über die Beobachtbarkeit des Naturkreislaufs, des Auferstehens aus sich selbst, also der Pflanze aus der Erde, gewinnen wir die Hoffnung, dass uns ähnliches Glück zu Teil wird. Denn wir entspringen wie die Pflanze der Erde und kehren am Ende unseres Lebens zu bzw. in sie zurück. Und wenn die Pflanze an jener Stelle wieder erblüht, wo einst die andere zugrunde ging, dann dürfen auch wir berechtigten Mut fühlen, dass wir auch nicht sterben, sondern nur unsere Gestalt verändern.

Geburt, das Sprießen eines Keimes, Blattes oder einer duftenden Blüte bittet uns folglich deshalb zur Muße, weil es unsere Seele das Endlich-sein ertragen läßt und darüber hinaus zeigt, wie unfassbar schön individuelle Expression als überlebensnotwendige Physis zu einer Kultstätte von überschwenglicher Dekadenz von beinah verschwenderischer Schönheit sein kann. So wie wir.

Was die Pflanze uns allerdings voraus hat, ist die völlige Negation der eigenen Reflexion im Kontrast oder gar Konkurenz zu Artgenossen. Keine Tulpe trägt Wonderbra, weil neben ihr grad ein niedliches Pflänzchen den Blütenkelch zur Schau trägt, und kein Baum drängt sich in unwegsames Gelände um stärker zu sein als andere. Einer hungrigen Biene ist es schnuppe, ob der Kelch groß oder klein, ausladend oder verschämt geschlossen wirkend daherkommt. Nektar haben beide.  

Der Baum steht da auf breiteren Pflanzen, wo es die Umstände erzwingen, hätte er die Wahl, wäre er wohl ein Lauch mit Wurstwurzeln und Springseilgeäst. Denn die Natur ist faul. Nicht mehr als unbedingt nötig, lautet die Devise des ewigen Kreislaufes. Und nichts und niemand kann es davon abbringen, was nicht heißt, dass Umweltkatastrophen nicht alles durcheinander bringen können.

Aber dieses sich nicht stressen lassen und dennoch in einer unfassbaren Schönheit nicht nur zu sein, sondern beinahe zu thronen, fordert uns Bewunderung ab. Deshalb bleiben wir stehen und atmen durch. Ganz nach dem Motto: Ich bin eine Distel- wie schön!

 

Text und Bild: adolf.muenstermann@gmail.com