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Der Kampf mit dem alltäglichen Mangel

Das Kriegsende vor 75 Jahren bedeutete auch für die Universität Münster einen Neuanfang – ein Rückblick von Sabine Happ


Es war der 8. Mai 1945: Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht war der Zweite Weltkrieg in Europa beendet. In Münster wurden die Kriegshandlungen bereits am 2. April mit der kampflosen Einnahme der Stadt durch die Briten und Amerikaner eingestellt. Die Stadt glich zu diesem Zeitpunkt einem Trümmermeer, insbesondere die Innenstadt, von der 91 Prozent zerstört war. Die Einwohner hatten die Stadt weitgehend verlassen, ebenso wie die wenigen verbliebenen Universitätsangehörigen. Letztere waren aber nicht alle geflohen, sondern zu einem großen Teil der planmäßigen Verlagerung der Universität Münster an andere Orte gefolgt.

Nach den verheerenden Bombenangriffen im Oktober 1944 hatte das Reichserziehungsministerium den Umzug der Medizinischen Fakultät mit ihren Klinikeinrichtungen nach Bad Salzuflen genehmigt. Dort kamen auch die Universitätsverwaltung sowie die Verwaltung der Universitätsbibliothek und des Studentenwerks unter. Die vorklinischen Institute wurden nach Göttingen umgesiedelt, die philosophischen und naturwissenschaftlichen Fächer vor allem nach Holzminden. Für das Wintersemester 1944/45 meldete die Universitätsverwaltung dem Ministerium, dass der Lehr- und Prüfungsbetrieb in Medizin und Zahnmedizin – vor allem in den höheren Semestern – weiterhin durchgeführt wurde, während der Unterricht in allen anderen Fächern bereits eingestellt worden war. Bis Anfang März 1945 fanden sogar medizinische Staatsexamina statt. Der Großteil der Studierenden, insbesondere die zum Kriegsdienst eingezogenen Studierenden, war zu dieser Zeit aber sowieso nicht mehr vor Ort, sondern wurde fernbetreut. Auch viele Professoren und andere Mitarbeiter waren als Wehrmachtsangehörige an der Front oder anderswo.

Obwohl die WWU niemals offiziell geschlossen wurde, war sie es im Sommersemester 1945 de facto. Nun galt es zu klären, wie sich die britischen Besatzer ihre Zukunft vorstellten. Schon bald kristallisierte sich heraus, dass sie eine „Wiedereröffnung“ wünschten. Hintergrund war nicht nur der dringende Bedarf an Akademikern, vor allem an Ärzten, sondern auch die sogenannte „Reeducation“ oder „Reconstruction“, die im Zuge der Entnazifizierung vorgesehene demokratische Bildungsarbeit. Mit ihr sollten junge Menschen nicht nur politisch, sondern auch kulturell an die Demokratie herangeführt werden. Zudem sollten sie eine berufliche Perspektive erhalten.

Der Vorläufer des Studentenwerks, die Studentenhilfe Münster e.V., veröffentlichte 1946 und 1947 die Münsterischen Studentenblätter, in denen Studierende die Möglichkeit hatten, Texte oder – wie hier – Karikaturen zu veröffentlichen. Diese Karikatur zur Wiedereröffnung der Universität stammt aus der Ausgabe von 1947, S. 19. © unbekannt

Der Theologe Georg Schreiber löste im Juli, von einem Notsenat gewählt, den letzten „Führerrektor“ Herbert Siegmund ab. Bevor die Hochschule am 3. November 1945 – und damit überraschend schnell – wenigstens in Teilen ihren Lehrbetrieb wiederaufnahm, war viel Arbeit und Engagement nötig. Nun war zu klären, welche Dozenten für die Lehre zur Verfügung standen und das Placet der Besatzer erhielten, in welchen Räumen und mit welchen Mitteln unterrichtet werden konnte und wie viele Studierende angesichts der Gesamtsituation überhaupt verkraftbar waren.

Das Interesse an der Politik und am Aufbau der Demokratie spielte sicherlich bei einzelnen Studierenden eine Rolle, im Vordergrund stand jedoch der Kampf mit dem alltäglichen Mangel. Der Student der Staatswissenschaften Heiner Habig schrieb dazu 1946 in den Münsterischen Studentenblättern: „Wir haben lange und sehr gewartet – und sind heimgekehrt. Nun ist die Not das Antlitz unserer Tage: Sorge um das Brot, Mangel an Bekleidung, Wohnungselend, Fehlen notwendiger Lehrmittel, weitgehende Aussichtslosigkeit in einigen Berufsgruppen. Ein und derselbe Mensch müht sich um die materiellen und geistigen Dinge.“ Seine Kommilitonin Lucie Winkelmann bangte nicht zu Unrecht darum, ob und wie viele Studentinnen zugelassen wurden, und forderte angesichts der Leistungen, die im Krieg auch Akademikerinnen in Vertretung der Männer erbracht hatten: „Laßt der Frau das Studium!“

Ebenso waren für die Mitarbeiter und Lehrenden der WWU der Neubeginn 1945 und die Jahre danach mit Mühsal und Einschränkungen verbunden. Professoren, die eine Unterkunft hatten, nutzten diese auch für universitäre Zwecke, beispielsweise für Lehrveranstaltungen. Heinrich Behnke, Professor für Mathematik und 1946/47 Dekan der Philosophischen Fakultät, richtete sich in seinem Haus ein Zimmer mit aus den Trümmern organisierten Möbeln her, das als „Dekanat, Wohn- und Schlafzimmer“ diente. „In meinem Einheitszimmer stand also in einer Ecke mein Bett mit den Regenschirmen als Bedachung“, schrieb er. „Diagonal war das Prachtsofa, daneben noch zwei einfache Stühle aus weiteren Ruinen.“

Die Situation verbesserte sich im Laufe der Jahre, jedoch langsam. Noch im Wintersemester 1948/49, als die Studierenden mit einem umfangreichen Fragebogen zu ihrer Situation befragt wurden, hatten 40 Prozent der Studenten und 33 Prozent der Studentinnen Untergewicht. Immerhin mehr als 70 Prozent wohnten in der Stadt, hatten ein beheiztes Arbeitszimmer, einen beleuchteten Arbeitsplatz sowie ein eigenes Bett und nicht mehr nur eine Couch, ein Feldbett oder eine Chaiselongue für die Nacht. Das „Leben in Ruinen“ gehörte allmählich der Vergangenheit an.

 

Autorin Dr. Sabine Happ leitet das Universitätsarchiv der WWU.

 

Titelbild: Um einen Studienplatz zu erhalten, mussten sich die Bewerber zunächst mehrere Monate an Aufräumarbeiten beteiligen. Aber nicht nur die Studienwilligen, sondern auch deutsche, niederländische, britische und indonesische Teilnehmer eines Ferienkurses leisteten kurz nach dem Krieg Trümmerdienst.                         © Universitätsarchiv Münster, Bestand 68, Nr. 895