Zum Inhalt springen
OZD.news - News und Nachrichten zum Nachschlagen

"Die russische Gesellschaft ist von Angst und Zwang durchdrungen"

Wie der Historiker und Doktorand an der Universität Münster, Alexey Gusev, den Tod Nawalnys bewertet

Der Tod von Alexej Nawalny in einem Straflager im sibirischen Charp hat weltweit für Entsetzen gesorgt. Der russische Historiker und Politikwissenschaftler Alexey Gusev kannte den russischen Oppositionspolitiker seit vielen Jahren: Seit 2013 gehörte er der Partei Nawalnys an und unterstützte seine Kampagnen gegen das russische Regime. 2021 musste er das Land wegen einer drohenden Verhaftung verlassen; seit 2023 ist er Doktorand am Lehrstuhl für osteuropäische und ostmitteleuropäische Geschichte von Prof. Dr. Ricarda Vulpius an der Universität Münster. Norbert Robers sprach mit dem 34-Jährigen über mögliche Auswirkungen des Todes von Nawalny.


Wie nimmt die russische Gesellschaft den Tod Nawalnys auf?

Der Tod von Nawalny ist ein Zeichen dafür, dass das Regime von Präsident Wladimir Putin nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Unabhängig von den konkreten Umständen seines Todes, ob durch Vergiftung, Misshandlung oder Vernachlässigung, die Schuld liegt bei Putin. Die vorherrschende Meinung unter den Russen, sowohl unter den Befürwortern als auch unter den Gegnern der Regierung, deutet überwiegend auf eine Ermordung Nawalnys hin. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass die Äußerung abweichender Meinungen in Russland sehr gefährlich ist. Die Unterdrückung von Kundgebungen unter dem Deckmantel der ,COVID-Beschränkungen' und die schwerwiegenden Konsequenzen für regiemkritische Meinungen haben Hunderte ins Exil getrieben und viele weitere hinter Gitter gebracht.


Das bedeutet, dass die Gefahren für Oppositionelle ein weiteres Mal zunehmen?

Definitiv. Der Tod Nawalnys stellt eine unmittelbare Bedrohung für Oppositionelle wie Ilya Yashin, Vladimir Kara-Murza, Andrey Pivovarov und andere dar. Es ist von größter Wichtigkeit, ihre Namen immer wieder ins Rampenlicht zu rücken, um sicherzustellen, dass die Welt sich an ihre Notlage erinnert und sie anerkennt. Keine Frage: Die aktuelle Situation entmutigt uns alle zutiefst. Das Bewusstsein, dass ein sinnvoller Protest praktisch unmöglich ist, verstärkt das Gefühl der Isolation der Oppositionellen - insbesondere derjenigen, die im Gefängnis sitzen. Dennoch ist es wichtig, zu wissen, dass die Mehrheit der Russen den Krieg in der Ukraine nicht unterstützt. Berichte, die auf ,Umfragen"' oder das Ausbleiben von Protesten beruhen, verkennen die differenzierte Realität von Angst und Zwang, die die russische Gesellschaft durchdringt.


Sie sprechen den Krieg in der Ukraine an. Wo sehen Sie einen Zusammenhang mit dem Tod Nawalnys?

Die Vergiftung Nawalnys im Jahr 2020, gefolgt von seiner Inhaftierung im Jahr 2021, waren Vorboten der anschließenden Unterdrückung Tausender Mitglieder der russischen Opposition. All das diente dem Regime der Vorbereitung der Invasion und des Krieges, der den wahren Interessen Russlands sowohl als Staat als auch als Gesellschaft grundlegend widerspricht. Die Ermordung von Nawalny könnte in der Tat eine entscheidende Eskalation in diesem Konflikt bedeuten.


Wie sollte Ihrer Meinung nach die Welt nun reagieren?

Die Weltgemeinschaft darf diese Ereignisse nicht vergessen und muss angemessen darauf reagieren. Anstatt Sanktionen zu verhängen, die den einfachen Bürgern schaden, sollte der Schwerpunkt jedoch darauf liegen, Solidarität mit dem russischen Volk zu zeigen, das sich mutig gegen Putins Regime stellt. Bedauerlicherweise gibt es immer noch zahlreiche Personen aus Putins innerem Kreis, die sich in demokratischen Staaten aufhalten - ehemalige Gouverneure, Abgeordnete der Staatsduma und die Nachkommen korrupter Beamter, die von der Veruntreuung des russischen Reichtums profitiert haben. Ebenso wichtig ist es, der russischen Bevölkerung die Hand zur Unterstützung zu reichen und ihr zu zeigen, dass sie in ihrem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit nicht allein ist.


Aber gibt es überhaupt noch eine aktive Opposition?

Die Opposition bleibt hartnäckig. Es ist unerlässlich, sie in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen. Die Missachtung des Wohlergehens seiner Bürger und seiner Nachbarn durch die russische Regierung unterstreicht die dringende Notwendigkeit internationaler Solidarität und Maßnahmen zur Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie.


Universität Münster