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Bundeskanzler Scholz beim 6. deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum (Rede im Wortlaut)

Unsere Zusage gilt: Wir unterstützen die Ukraine - so lange wie nötig!

Sehr geehrter Herr Staatspräsident Selensky,
sehr geehrter Herr Premierminister Schmyhal,
sehr geehrter Herr Adrian,
sehr geehrter Herr Bruch,
meine Damen und Herren!

Es war mir wichtig, auch in diesem Jahr beim deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum zu sprechen. Seit mehr als 600 Tagen wehrt sich die Ukraine heldenhaft gegen einen von Russland begonnenen, verbrecherischen Angriffskrieg, der auf nichts weniger als die Vernichtung der ukrainischen Staatlichkeit gerichtet ist. Dieser Angriff ist zugleich auch ein Angriff auf das grundlegende Prinzip der europäischen und internationalen Friedensordnung, nämlich dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürfen. Auch deshalb darf Russland mit seinen imperialistischen Motiven nicht durchkommen. Auch deshalb unterstützen wir die Ukraine wirtschaftlich, finanziell, humanitär und auch mit Waffen.

Diese Unterstützung wird in keiner Weise dadurch beeinträchtigt, dass wir seit den schrecklichen Morgenstunden des 7. Oktober natürlich zugleich mit größter Anteilnahme und in größter Sorge nach Israel und in den Nahen Osten schauen. Beiden Ländern ‑ Israel und der Ukraine ‑ gilt unsere unverbrüchliche Solidarität.

Putin hat die Ukraine überfallen, weil er in imperialistischer Verblendung mit einem einfachen und schnellen Sieg rechnete. Er hat sich geirrt. Und er irrt sich erneut, wenn er glaubt, länger durchzuhalten als wir. Die Ukraine wird nicht aufhören, für ihre Freiheit zu kämpfen. Das ist in diesen mehr als 600 Tagen vollkommen unmissverständlich klar geworden.

Unsere Zusage gilt: Wir unterstützen die Ukraine - so lange wie nötig! Zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern aus der EU, der G7 und vielen anderen Ländern lassen wir keinen Zweifel an unserer Entschlossenheit und unserer Durchhaltefähigkeit aufkommen. Unsere zivile und militärische Hilfe beläuft sich seit Kriegsbeginn auf 24 Milliarden Euro. Damit ist Deutschland hinter den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine.

Im aufziehenden Winter spannen wir einen Schutzschirm gegen neuerliche russische Angriffe auf die Energie-, Wasser- und Wärmeinfrastruktur auf. Denn es zeichnet sich ab, dass Russland erneut Kälte und Energieknappheit als Waffe gegen die Zivilbevölkerung einsetzen will.

Um den Himmel über der Ukraine gegen russische Drohnen und Raketen zu sichern, haben wir ein Winterpaket im Wert von noch einmal 1,4 Milliarden Euro geschnürt. Es enthält unter anderem ein weiteres Patriot-System, ein weiteres Iris-T-System sowie weitere Gepard-Flakpanzer mit neu dafür hergestellter Munition.

Jede Fabrik, die nicht zerstört wird, jede Stromleitung, die geschützt werden kann, jedes Unternehmen, in dem weiter produziert wird, hilft schließlich dabei, die Ukraine auch wirtschaftlich zu stabilisieren, und die Ukraine ist da auf einem guten Weg, Herr Premierminister. Drei Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr, robuste Prognosen auch für 2024 ‑ das zeigt: Die Ukraine ist „open for business“, auch in diesen Zeiten, und wir unterstützen sie dabei, indem wir helfen, Kriegsschäden zu verhindern und zu beseitigen, und indem wir bereits seit dem vergangenen Jahr den Wiederaufbau unterstützen ‑ nach dem Motto „Build back better!“.

Erst vergangene Woche haben wir einen Zuschuss von knapp 80 Millionen Euro auf den Weg gebracht, mit dem der ukrainische Energieversorger Kriegsschäden im Stromnetz beheben und gleichzeitig die Energieeffizienz des Gesamtnetzes verbessern kann. Wenn man weiterdenkt, etwa an das große Potenzial, das die Ukraine im Bereich der erneuerbaren Energien hat, dann sind das echte Zukunftsinvestitionen.

Potenzial hat die Ukraine übrigens nicht nur im Energiebereich, etwa beim Wasserstoff, sondern genauso in der Zulieferindustrie, im Agrarbereich, im IT-Sektor und bei kritischen Rohstoffen. Sie haben das erwähnt, Herr Ministerpräsident, und die Konferenz hier in Berlin unterstreicht das. Es ist sicher kein Zufall, dass trotz des Krieges mehr als 2000 deutsche Unternehmen in der Ukraine aktiv sind - mit mehr als 35 000 Angestellten allein bei Zulieferern im Automobilsektor.

Wer heute in die Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland, das Teil unserer Rechtsgemeinschaft und unseres Binnenmarkts sein wird. Wie schnell der Beitrittsprozess geht, hängt von den Reformen ab, die die ukrainische Regierung unternimmt. Klar ist: Jede dieser Reformen wird das Investitionsklima weiter verbessern. Und klar ist auch: Wir werden die Ukraine auf ihrem Weg in die EU begleiten und auch bei den Reformen mit aller Kraft unterstützen.

Um Investitionen in der Ukraine bereits jetzt zu erleichtern, haben wir in enger Rücksprache mit der Wirtschaft und Industrie noch einmal Verbesserungen bei den verfügbaren Garantieinstrumenten erreicht ‑ bei der Höhe der Garantieübernahme, bei den Antragsgebühren und auch beim bürokratischen Aufwand. Damit federn wir bestehende Risiken ab ‑ wobei die Wirtschaft natürlich am Ende von Ihnen, von den Unternehmerinnen und Unternehmern, gemacht wird.

Deshalb ist es ein gutes Signal, sehr geehrter Herr Adrian, dass die Auslandshandelskammer mit eigenen Programmen deutsche Unternehmen in der Ukraine vernetzt, die sich in den unterschiedlichen Sektoren am Wiederaufbau beteiligen wollen. Die Privatwirtschaft wird bei dieser Mammutaufgabe Wiederaufbau eine ganz zentrale Rolle spielen. Und ich bin sicher: Auf die Expertise und das Engagement der deutschen Industrie ist dabei Verlass.

Wir als Bundesregierung sorgen dabei für den nötigen politischen Rahmen. Schon beim Europäischen Rat Ende dieser Woche werden wir unseren gemeinsamen Willen zur finanziellen Unterstützung der Ukraine bekräftigen. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass wir bis Ende des Jahres die konkreten Lösungen auf den Weg bringen, um eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine für die kommenden Jahre zu sichern.

In der EU wollen wir dafür eine Ukraine-Fazilität schaffen, die Zuschüsse und Darlehen bündelt, private und öffentliche Investitionen koordiniert und in der auch die technischen und weiteren unterstützenden Maßnahmen zusammengefasst werden, die wir als Europäische Union für Beitrittskandidaten zur Verfügung stellen.

Richtschnur für diesen Wiederaufbau aus einem Guss soll ein von der Ukraine selbst erarbeiteter Plan sein, der mit der EU und auch international gut abgestimmt ist. Finanzielle Unterstützung wird dort auch mit der Erfüllung wichtiger Reformschritte verbunden. Bei der Abstimmung und der Erarbeitung von Reformschwerpunkten mit Partnern über die EU hinaus kommt auch der internationalen Geberplattform, die ich während der deutschen G7-Präsidentschaft im vergangenen Jahr ins Leben gerufen habe, wieder und weiter eine wichtige Rolle zu.

Im Juni des kommenden Jahres werden wir zudem die internationalen Unterstützer der Ukraine ‑ gemeinsam mit Ihrer Regierung, Herr Premierminister ‑ zur Ukraine Recovery Conference 2024 nach Berlin einladen. Ziel ist es auch dort, der Ukraine langfristige wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung zu sichern ‑ sowohl durch die beteiligten Staaten als auch durch den Privatsektor. Dabei denken wir den Beitrittsprozess der Ukraine zur EU immer schon mit.

Meine Damen und Herren, auf einen Aspekt möchte ich zum Schluss noch eingehen, weil er aus meiner Sicht der Garant dafür ist, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine in Zukunft noch besser, noch dynamischer entwickeln. Neben der EU-Integration der Ukraine ist das der Umstand, dass fast eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer inzwischen hier in Deutschland leben und arbeiten. Viele von ihnen beenden in diesen Wochen und Monaten ihre Integrationskurse. Viele sprechen inzwischen Deutsch. Fast alle sind gut ausgebildet.

Den deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern hier, die oft unter einem Mangel an Arbeitskräften leiden, möchte ich daher einen Rat geben: Nutzen Sie dieses große Potenzial! Integrieren Sie die Ukrainerinnen und Ukrainer, die hier bei uns sind, in Ihre Unternehmen! Selbst wenn diese Frauen und Männer nach dem Krieg zurück in die Ukraine gehen, sind sie für Ihre Unternehmen ein Gewinn, weil sie dann menschliche Brücken bilden in ein Land, das als EU-Beitrittskandidat enormes Wirtschaftspotenzial birgt ‑ ein Land mit Millionen fleißigen, gut ausgebildeten Bürgerinnen und Bürgern; ein Land, mit dem wir ‑ auch dank der Ukrainerinnen und Ukrainer, die derzeit hier bei uns leben ‑ enger verbunden sind, als jemals zuvor.

Lieber Denys Schmyhal, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Ukraine, die Aufgabe, vor der Sie stehen, ist groß. Sie erfüllen sie, während Ihr Land mit einem Angriffskrieg überzogen wird. Unsere Solidarität, unsere Unterstützung und unsere Hochachtung dafür sind Ihnen sicher. Und ich denke, ich spreche auch im Namen der deutschen Wirtschaft und uns aller hier, wenn ich sage: Die Ukraine kann sich auf Deutschland verlassen.

Schönen Dank!


Bild: AFP