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Be at the Palazzo, 10pm. A haunting in Venice

Hercule Poirot in übernatürlicher Bestform, also wundert euch nicht, wenn der Bär Tango tanzt. Eine Rezension.

Hercule Poirot entschied sich für Feingebäck statt Detektivfälle. Im Zuge seiner Arbeit erlebte er unzählige Morde. Im Zuge seiner historischen Gegenwart in Europa überlebte er zwei Weltkriege. Im Zuge seines Lebens verlor er seine große Liebe. Der Tod ist sein stetiger Begleiter, und um all dem zu entkommen, wählt er ein zurückgezogenes Leben in einer Stadtvilla in Venedig. Bewacht von seinem Bodyguard geht er seinem Alltag nach – Frühstückseier, Feingebäck und Pralinen. Aber dieser Ruhestand wird gestört.

„Sie haben den Bären geweckt – weinen Sie nicht, wenn er Tango tanzt.“

Der Bär ist der sich noch sträubende Hercule Poirot (Kenneth Branagh), und die Bärenweckerin ist die amerikanische Mystery-Schriftstellerin Ariadne Oliver (Tina Fey; Only Murder in the Building). Am Halloween-Abend begeben sie sich gemeinsam mit dem Bodyguard des Meisterdetektivs, Vitale Portfoglio (Riccardo Scamarcio; John Wick), zum sagenumwobenen Palazzo, welches vor langer Zeit ein Kinderheim beherbergte, in dem zur Zeit der Pest Kinder zum Sterben zurückgelassen worden sein sollen, und die eben diese Stadtvilla nach wie vor heimsuchen. In diesem klassischen Murder-Mystery-Setting wollen sie einer Séance beiwohnen, um mit der verstorbenen Tochter der berühmten Opernsängerin Rowena Drake (Kelly Reilly; Sherlock Holmes) in Kontakt zu treten. Angeleitet wird diese spiritistische Sitzung von Mrs. Reynolds (Michelle Yeoh; Everything Everywhere All At Once), einem weltbekannten Medium, und das Ziel des heutigen Abends für Hercule Poirot, welcher in alter Scooby-Doo-Manier versucht, dem Übernatürlichen die Maske zu entreißen – bis ein Mord geschieht und Poirot wieder in seinem alten Element erscheinen muss.

In dem Moment, in dem wir versuchen, dem Film eine Schublade zuzuweisen, entzieht er sich uns wieder. So möchte ich mich der Frage widmen: Können wir diesen Film als Horrorfilm bezeichnen? Die wunderschöne und dynamisch spielende Kameraarbeit von Haris Zambarloukos lässt dies zu. Ein Aufschrei in der Ferne, und Poirot eilt zum Geschehen, während die Kamera den Weg über den Kopf des rennenden Detektivs sucht, um als Nächstes flüssig den Flur in seiner Totalen zu erfassen. Dieser One-Shot, dessen Spannung sich mir direkt einprägte, ist nur ein Beispiel für die kreative Kameraarbeit, die an diverse Horrorfilme erinnert.

Auch die Filmmusik der Oscarpreisträgerin Hildur Guðnadóttir hebt sich mit ihren leisen und atonalen Klängen, die an Spielarten der Neuen Musik der Nachkriegszeit erinnern, im spannungsreichen Kontrast zum romantischen Stil, der Rückblicke begleitet und somit meist eine vermeintlich bessere Zeit zeichnet – ein gruseliges Panorama wird aufgebaut.

Zwischen diversen Jump-Scares und Intimaufnahmen von Ratten findet Kenneth Branagh (Hercule Poirot und Regisseur der Agatha Christie Neuverfilmungen) allerdings stets die Zeit, mit dem Horrorstil zu brechen. Ob der Comedy-Sidekick Tina Fey, kühl wie tiefe Blicke Poirots in die Kamera nach einem Jump-Scare, ein stetiges Tempo im Storytelling und Poirots atheistische und rationale Grundhaltung dem Film seine Chancen als Horrorfilm zu nehmen. Somit sprechen wir doch wieder von einem Old Fashioned Murder-Mystery Hollywoodfilm. Kurze Zwischenbemerkung: Von der Buchvorlage „Hallowe’en Party“ von Agatha Christie von 1969 werden diverse Anspielungen und das grundlegende Setting erhalten, allerdings wird dankbarerweise stark von Buch abgewichen.

Während die Betonung des Films auf dem klassischen Murder-Mystery-Storytelling liegt, behandelt diese Agatha Christie-Adaption wieder subversive Thematiken. Wir befinden uns im Jahr 1947, und Kriegstraumata sind allgegenwärtig. Wir sehen den an PTBS erkrankten Feldarzt Dr. Leslie Ferrier (Jamie Dornan; Fifty Shades of Grey), der seine Traumata nach der Befreiung des Konzentrationslagers von Bergen-Belsen nie überwand und seinen 13-jährigen Sohn, den Edgar Allen Poe lesenden Jude Hill (Leopold Ferrier; spielte schon mit Jamie Dornan im Film Belfast und mein persönliches Highlight des Films), der sich stets um seinen Vater kümmerte. Die ungarischen Zwillinge, gespielt von Emma Laird und Amir El-Masry, deren einziges Ziel ist, dem Grauen Europas zu entkommen und nach Missouri zu ziehen. Aber auch Hercule Poirot, dessen detektivische Kälte mehr ist als berufliche Besonnenheit.

Als großer Fan der Filmreihe kann ich „A Haunting in Venice“ jedem Murder-Mystery-Fan wärmstens ans Herz legen.

Filmwertung: 82/100

Textrechte: Marcel Guthier