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Hinter schwedischen Gardinen

Schwedens seltsamer Umgang mit der Coronakrise

Offene Kitas und Grundschulen, geöffnete Restaurants, shoppen, und ins Fitnessstudio gehen. Nein, das ist kein feuchter Traum aus der Corona-Quarantäne, sondern die Realität in Schweden. Die Regierung hat sich damit für einen Sonderweg entschieden, der an die Vernunft der schwedischen Bürgerinnen appelliert. Man ist dazu aufgerufen, Abstand zu halten, von zu Hause zu arbeiten und zu studieren. Nur Pflegeheime und Versammlungen mit über 50 Menschen dürfen nicht mehr aufgesucht werden. Zudem wurden Menschen aus Risikogruppen und Menschen über 70 Jahre aufgefordert, sich in häusliche Isolation zu begeben.

Dieser Ansatz der Durchseuchung und Herdenimmunität wurde anfangs in den Niederlanden verfolgt, mittlerweile aber abgelehnt, hier haben Schulen und Restaurants geschlossen. Mittlerweile spricht man von einer 'intelligenten Ausgangssperre'. Ebenso hat Großbritanien von dem Plan nichts zu tun abgesehen. Die BBC ließ gestern (2.4.) über Twitter verlauten, dass so bis August 500.000 Menschen gestorben wären. Jetzt hingegen geht man von 20.000 Toten durch COVID-19 aus. Zusammen mit den Niederlanden gehört das Vereinigte Königreich laut dem Robert Koch Institut ab dem 2.4. zum 'Coronavirus-Risikogebiet'.

Die Vereinigten Staaten gelten ebenso als Risikogebiet. In den USA und vor allem in Brasilen wurde durch inkompetente Führung das Virus kleingeredet, und es wurde gar nichts unternommen. Bolsonaro befindet sich noch heute in einem Zustand der Leugnung. Die Quittung dafür könnte buchstäblich tödlich werden. In den USA kalkuliert man, dass es ohne Maßnahmen zu 2,4 Millionen Tote käme. Da die Eindämmung dennoch zu spät geschah, rechnet man jetzt mit bis zu 200.000 Todesfällen.

Schweden gilt mit seiner Vertrauenspolitik und Apell an den 'gesunden Menschenverstand' damit als Vorbild für viele, die mit dem Deutschen Umgang unzufrieden sind. Wie so oft während der Coronakrise, kommen neoliberale, Verschwörungstheoretiker und Linke daher auf einen gleichen Nenner.

Ein besonders lauter Fall ist der Wiederholungstäter Jakob Augstein.

Augstein lehnt sich nach vorne und wedelt mit seinem Kugelschreiber. Er fordert den Epidemiologe Stefan Willich dazu auf, den Politikern zu erklären, warum in den Niederlanden und in Schweden alles noch "auf habe", während in Deutschland alles zu sei. Wie bereits erwähnt, stimmt das im Fall der Niederlande nicht mehr. Mitte März hatte man hier das öffentliche Leben weitestgehend eingefroren.

Als Linker sorgt sich Augstein aber noch über etwas anderes. 45 Minuten früher hatte er gegenüber Sandra Maischberger noch die Furcht vor einer 'Scientokratie' geäußert. Also dass Epidemiologen, Virologen und Medizinstatistiker die Herrschaft im Land übernehmen. Reden und Nachdenken sei dann bald auch verboten, fürchtet Augstein.

Der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil entgegnet Augstein daraufhin, dass Willich ihm dann auch die Niederländische Todesrate sagen soll.

Aber was sagt denn nun der Epidemiologe?

In einen Interview vom 24.3. mit dem Tagespiegel machte Willich deutlich, dass er das Konzept der Herdenimmunität für zu riskant halte und die Niederlanden einen Mittelweg fahre. Heute würde das wohl auf Schweden zutreffen. Und auch bei Maischberger appellierte er an Abstand statt Abschottung. Die Schäden, die dieser Mittelweg in den Niederlanden verursacht hat, erwähnt er nicht.

Willich sagt bei Maischberger weiter, dass es in Asien, bekannterweise in China, nie Ausgangsperren gab. Er sagt es nicht, aber hier ist Südkorea ein Paradebeispiel für die vermeintliche Eindämmung des Virus. Disziplin führt Willich dabei als Hauptgrund an.

Doch das ist nur ein Teil des Erfolges. Abgesehen von der Erfahrung mit SARS und MERS, hat Südkorea den Virus so gut im Griff, nicht etwa weil die Bürgerinnen so diszipliniert sind, sondern gerade weil man sie so stark überwacht. Später geht es in der Runde unter anderem um den Datenschutz, hier zeigt sicher der Kabarettist Florian Schröder pessimistisch, dass es sich um eine Art neuen Patriot Act handeln könne und man die Ausspähung, die jetzt vielleicht angemessen wäre, nie wieder zurücknähme.

Keinem im Panel scheint also aufgefallen zu sein, dass es sich bei dem Erfolgsmodell von asiatischen Ländern um weit mehr als um Disziplin gehandelt hat, sondern auch um das, was sie selbst am Meisten befürchtet haben: ein schier dystopisches Verhältnis zum Datenschutz.

Die Lösung der Pandemie kann nur eines sein: ein Impfstoff. Bis dieser gefunden ist, sind wir alle Teil eines gefährlichen Sozialexperiments. Deutschland hat mit 'flatten the curve' früh versucht, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Wir wissen wenig über COVID-19, Länder testen und zählen die Fälle und Todesfälle unterschiedlich. Trotz Kontaktverbot und etwaigen Eindämmungsversuchen ist die Zahl der neuen deutschen Fälle in den letzten beiden Tagen wieder höher. Die Verdopplungsrate verlangsamt sich dennoch.

Eines wissen wir jedoch: Länder, die das Virus sich erstmal ausbreiten ließen, sind nach kurzer Zeit umgeschwungen, wie etwa in GB oder in Holland. Wie Südkorea zeigt, zahlt man den Preis der Freiheit mit Überwachung. Schwedens Strategie könnte funktionieren. Sie kann aber auch unvorstellbare Schäden anrichten.

Flo aus Münster für stadt40.