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Held eines aufgezwungenen Krieges

Wolodymyr Selenskyj ist zum personifizierten Widerstand der Ukraine gegen Russlands Großmachtambitionen geworden.

Jeder kennt den entschlossenen Blick trotz dunkler Augenschatten, die kämpferische Haltung in khakifarbener Kleidung - ob in Kiew, an der Front oder virtuell bei internationalen Treffen: Wolodymyr Selenskyj ist zum personifizierten Widerstand der Ukraine gegen Russlands Großmachtambitionen geworden. Gerade hat das "Time"-Magazine den Präsidenten der Ukraine zur Persönlichkeit des Jahres 2022 gekürt und in Aachen wurde ihm der renommierte Karlspreis zugesprochen. Der Wandel des 44-Jährigen vom Komiker zum eher zufällig gewählten Präsidenten und nun zum Kriegshelden könnte größer kaum sein.

In den Monaten vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar in der Ukraine hätte niemand mehr auf Selenskyj als Hoffnungsträger gesetzt. Knapp drei Jahre nach seinem fast märchenhaften Sieg bei der Präsidentschaftswahl kämpfte das Land immer noch gegen Armut, Korruption und die Bedrohung durch Russland. "Vor dem Krieg hielten viele die Ukraine für einen gescheiterten Staat und Selenskyj für einen schwachen Staatschef", sagt Politikexperte Wolodymyr Fesenko.

Das änderte sich schlagartig mit der russischen Invasion im Morgengrauen des 24. Februars. Moskau war von einem kurzen Krieg überzeugt, die russischen Truppen bewegten sich rasch auf die Hauptstadt Kiew zu. "Es gab Gerüchte, dass Selenskyj dem Druck nicht standhalten und fliehen würde", erinnert sich Fesenko.

Doch der Präsident blieb. In den chaotischen ersten Stunden nach dem russischen Einmarsch veröffentlichte er ein Video von sich im Kreis seiner engsten Mitarbeiter vor der Präsidialverwaltung: "Wir sind alle hier, um unsere Unabhängigkeit und unser Land zu verteidigen", sagte Selenskyj mit direktem Blick in die Kamera. Das Angebot der USA, ihn in Sicherheit zu bringen, schlug er aus, angeblich mit den Worten: "Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit."

In den rund zehn Monaten seit diesem denkwürdigen Auftritt - und vor dem Hintergrund glaubwürdiger Anschuldigungen russischer Kriegsverbrechen, des Todes von tausenden Menschen und der Vertreibung von Millionen - hat sich Selenskyj in hunderten nächtlichen Ansprachen an die Nation gewandt, ihr Mut zugesprochen - und den Sieg versprochen. 

Das Karlspreis-Direktorium würdigte Selenskyj als "Halt und auch Vorbild für sein Volk". Für die Ukrainer sei er nicht nur Präsident und Oberbefehlshaber der Armee, sondern auch "Motivator, Kommunikator, der Motor und die Klammer zwischen der Ukraine und der großen Phalanx der Unterstützer". Zudem bekenne sich Selenskyj zu den europäischen Werten.

Die Ukrainer haben durchaus Grund zur Hoffnung: Die eindringlichen Appelle ihres Präsidenten an den Westen für militärische und finanzielle Unterstützung haben dazu geführt, dass die Ukraine den russischen Vormarsch stoppen und dann wichtige Gebiete zurückerobern konnte. Derweil versucht Kreml-Chef Wladimir Putin, seinen Erzfeind als Anführer einer Bande von Neonazis darzustellen - ausgerechnet den Sohn einer jüdischen Familie, die Holocaust-Opfer zu beklagen hat.

Seine Eloquenz und Versiertheit vor der Kamera weiß der ehemalige Schauspieler Selenskyj auch als Staatschef perfekt zu nutzen. Sein Weg ins Präsidentenamt ähnelte dem Drehbuch seiner populären Fernsehserie "Diener des Volkes", in der er einen Geschichtslehrer spielt, der eher zufällig zum Präsidenten gewählt wird. 

Diese Erfahrung setzt er nun geschickt für den Kampf gegen den russischen Goliath ein. "Seine Reden sind weder politisch korrekt noch diplomatisch. Er sagt unverblümt, was die Ukraine braucht, um im Krieg zu überleben", sagt der frühere Journalist und ukrainische Politiker Sergij Leschtschenko.

Nur einmal zeigte sich der ukrainische Staatschef niedergeschlagen - als er Butscha besucht, den Ort in der Nähe von Kiew, der zum Symbol für die russischen Gräueltaten in dem Krieg wurde. Danach verkündete Selenskyj eine Kehrtwende: Kiew werde nicht mehr mit Russland verhandeln, solange Putin an der Macht sei oder russische Truppen in der Ukraine seien. Dies bedeutet aber auch, dass sich Bevölkerung und Verbündete auf einen Zermürbungskrieg einstellen müssen, dessen Ende nicht absehbar ist.

ans/cp

Stanislav DOSHCHITSYN / © Agence France-Presse