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Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz

Rede bei der deutsch-kanadischen Wirtschaftskonferenz am 23. August 2022 in Toronto

Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Justin,
verehrte Ministerinnen und Minister,
liebe Frau Denz,
lieber Herr Beatty,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

was für eine Skyline!

Wer würde beim Blick auf diese Stadt nicht denken: Was für eine dynamische, energiegeladene nordamerikanische Metropole. Genau das ist Toronto natürlich.

Aber da gibt es noch etwas. Etwas, das wir Europäer und vielleicht ganz besonders wir Deutsche empfinden, wenn wir hier in Kanada landen. Ich habe es in dem Restaurant im Zentrum Montreals gespürt, in dem Justin und ich gestern zu Abend gegessen haben. Und ich spüre es auch hier, in den Straßen von Toronto - und das nicht nur angesichts der beeindruckenden Zahl deutscher Autos.

So unterschiedlich kanadische und deutsche Landschaften und Städte aus der Luft aussehen mögen - auf dem Boden fühlen wir uns beim anderen zuhause - mehr als in den meisten anderen Teilen der Welt. Vielleicht kann man das, was uns verbindet, mit einem Begriff ausdrücken: Verwandtschaft.

Die Vielfalt dieses mehrsprachigen, multikulturellen Landes spricht uns Europäer an. Unsere beiden Länder verbindet eine Konsenskultur, die unsere Gesellschaften widerstandsfähig macht. Sie haben Ihre starken Provinzen und Territorien, wir haben unsere Bundesländer. Etwas zu schaffen, bedeutet für Kanadier wie für Deutsche: Brücken bauen, Unterschiede respektieren, aufeinander zugehen.

Wir glauben an freien und fairen Handel. An wettbewerbsfähige und soziale Volkswirtschaften. An Demokratien, die sich nicht dadurch auszeichnen, dass eine Mehrheit über eine Minderheit herrscht, sondern dadurch, dass jeder Bürgerin und jedem Bürger derselbe Respekt entgegengebracht wird. Wir treten ein für eine Welt, die auf Regeln beruht, in der das Recht zur Macht verhilft und nicht umgekehrt.

Im Kern empfinde ich, dass Deutschland und Kanada die Gemeinsamkeit haben, progressive Länder zu sein. Diese Erkenntnis ist für mich natürlich nicht ganz neu. Vor allem, wenn es um Justin Trudeau geht. Als Hamburger Bürgermeister habe ich dich, lieber Justin, als Ehrengast zum traditionellen Matthiae-Mahl eingeladen. Das war 2016, unmittelbar nach Abschluss der Verhandlungen über das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA), das den Goldstandard für zeitgemäße Handelsabkommen setzt. Und ich freue mich, dass die Ratifikation durch den Bundestag im Gange ist.

Auch als Finanzminister habe ich dieses Gefühl der Verwandtschaft unserer progressiven Länder erfahren. Kanada war unser engster Verbündeter, als es darum ging, im Rahmen der G7 und G20 eine Einigung über eine globale Mindestbesteuerung zu erzielen. Den Durchbruch durfte ich an der Seite von Chrystia Freeland verkünden - in der kanadischen Botschaft in Washington.

Unter deutschem Vorsitz verständigte sich die G7 darauf, bis zum Ende dieses Jahres einen Klimaclub einzurichten. Ziel des Clubs ist es, die Dekarbonisierung unserer Industrien voranzutreiben, ohne zur Verlagerung von CO2-Emissionen beizutragen oder internationale Handelskonflikte zu befeuern.

Lieber Justin, ich danke dir für deine Unterstützung hierbei. Ich bin dankbar, dass du diese Idee frühzeitig mitgetragen hast.

Es gibt in der internationalen Politik das Klischee, Deutsche und Kanadier könnten die Sätze des jeweils anderen beenden. Stimmt, das können wir. Und angesichts der drängenden gegenwärtigen Lage müssen wir das auch.

Über uns bricht gerade ein regelrechter Orkan herein: eine Vielzahl einander überlagernder und verstärkender globaler Krisen und fundamentaler geopolitischer Veränderungen. Sie alle wissen, wovon ich spreche: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Energiekrise, die globale Nahrungsmittelknappheit und die Inflation, die daraus folgen.

All dies geschieht zu einer Zeit in der die Welt noch immer mit der Covid19-Pandemie kämpft, Autokratien auf dem Vormarsch sind und die Klimakrise überall auf der Welt und damit auch in unseren Ländern ihren Tribut fordert. Und doch ist dies nicht der Moment für düstere Analysen. Vizekanzler Robert Habeck und ich sind gemeinsam mit unserer Delegation nach Kanada gekommen, um mit Ihnen Hand in Hand zu arbeiten. Und genau das tun wir.

Als Mitglieder der G7 erlegen wir den russischen Aggressoren beispiellose Sanktionen auf. Wir sind geeint in unserer Unterstützung für die Ukraine, und zwar nicht zuletzt, weil die Verteidigung der Ukraine auch die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung ist, auf die unsere beiden Länder sich stützen. Justin und ich haben dies auf der Krim-Plattform heute Morgen hier in Toronto erneut bekräftigt.

Deutschland löst sich derzeit rasant von russischer Energie, und Kanada ist dabei der Partner unserer Wahl. Im Moment geht es darum, unsere LNG-Importe auszubauen. Wir hoffen, dass kanadisches LNG dabei eine wichtige Rolle spielen wird.

Aber die vor uns liegende Aufgabe umfasst weit mehr als nur die Diversifizierung unserer Energieversorgung. Was vor uns liegt, ist nichts Geringeres als die größte Transformation unserer Wirtschaft, Infrastruktur und Mobilität seit dem Beginn der industriellen Revolution.

Deutschland hat beschlossen, bis 2045 klimaneutral zu werden. Gleichzeitig sind wir entschlossen, eines der weltweit führenden Industrieländer zu bleiben. Dafür haben wir uns klare und feste Ziele gesteckt. Bis 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu gewinnen, ist eins davon.

In den vergangenen Monaten haben wir bürokratische Hürden abgebaut und so Verwaltungsabläufe beschleunigt. Milliarden von Euro werden in verlässliche Netze, neue Infrastruktur und klimafreundliche Technologien investiert.

Die externen Schocks, die wir erleben, stärken uns nur in unserer Entschlossenheit, neue Partner zu suchen und alte Freundschaften zu vertiefen. Wie die unsere - die Freundschaft zwischen Kanada und Deutschland.

Das können Sie mir getrost glauben - sehen Sie sich nur in diesem Raum um. Robert und ich werden begleitet von allen, die in der deutschen Wirtschaft Rang und Namen haben. Sie alle sind ebenso begierig, neue Partnerschaften mit kanadischen Unternehmen einzugehen, wie wir, wenn es darum geht, für den erforderlichen politischen Rückhalt zu sorgen.

Die gute Nachricht ist, dass die Perspektiven für unsere neue tatkräftige Partnerschaft besser nicht sein könnten. Im globalen Puzzle unserer multipolaren Welt greifen Kanada und Deutschland als Teile perfekt ineinander.

Vor der Reise sagte mir jemand: "Kanada hat alles, was Russland hat. Nur ist das Investitionsklima erheblich besser. Und es ist eine Demokratie."

Das warst Du. Und ich stimme Dir voll und ganz zu. Kanada ist ein verlässlicher Gefährte. Wir haben dieselben Werte. Ihr seid unser Freund und Bündnispartner.

Das Land verfügt über ein nahezu unbegrenztes Potenzial, eine Supermacht auf dem Gebiet der nachhaltigen Energie und der Erschließung nachhaltiger Ressourcen zu werden. Und Deutschland wiederum ist bereit, einer von Kanadas engsten Partnern zu werden. Nicht nur als Verbraucher kanadischer Energie und kanadischer Rohstoffe oder als Exporteur hochwertiger Industriegüter. Sondern als jemand mit dem Know-how und der Bereitschaft, in dauerhafte, zukunftsgerichtete und nachhaltige Wertschöpfungsketten und in die echte Integration unserer Volkswirtschaften zu investieren.

Der Kanadier Alexander Thomas Stuart, ein Pionier der Wasserstoff- und Energietechnologie, baute 1905 seinen ersten Elektrolyseur. Etwa zur selben Zeit entwickelte der Deutsche Fritz Haber ein Verfahren zur Synthese von Ammoniak.

Auch heute können unsere beiden Länder wieder Technologie- und Wissenschaftsgeschichte schreiben, nicht zuletzt, wenn es um den künftigen Einsatz von Wasserstoff oder des sogenannten Power-to-Ammonia-Verfahrens geht.

In diesem Sinne freue ich mich darauf, mir heute Nachmittag den kräftigen Wind von Stephenville um die Nase wehen zu lassen, der über erhebliches Potenzial zur Erzeugung grünen Wasserstoffs verfügt.

Die kanadisch-deutsche Synthese findet nicht nur in Bezug auf die elektrische Leistung statt. Sie betrifft auch die Leistung des menschlichen Gehirns.

Gestern haben wir in Montreal mit Yoshua Bengio einen der Großmeister der künstlichen Intelligenz und des tiefen Lernens getroffen. Er und sein Team arbeiten mit deutschen Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern im Forschungszentrum Jülich zusammen, um eine Landkarte des menschlichen Gehirns zu erstellen. Ihre gemeinsame Arbeit könnte uns verstehen helfen, wie das menschliche Gehirn arbeitet - und auf diese Weise die medizinische Wissenschaft revolutionieren.

Beispiele wie dieses gibt es zuhauf - ebenso wie neue Geschäftsmöglichkeiten für unsere beiden Länder.

Ich freue mich, dass Kanada die Einladung angenommen hat, 2025 Partnerland der Hannover Messe zu werden, der größten Industriemesse der Welt.

Bereits während dieser Reise wird eine Absichtserklärung über kritische Mineralien zwischen der kanadischen Regierung, Volkswagen und Mercedes Benz unterzeichnet.

Die Gelegenheiten sind also da. Der politische Wille ist da. Und die richtigen Partner sind auch da - viele von ihnen sogar hier in diesem Raum. Ich kann zuversichtlich hinzufügen: Das erforderliche Kapital ist ebenfalls da.

Das zumindest ist der Eindruck, den ich auf dem gestrigen Treffen mit Vertretern der kanadischen Pensionsfonds gewonnen habe. Sie suchen gezielt nach Investitionsmöglichkeiten in ökologisch und sozial nachhaltige Projekte. Und es ist auch die Botschaft, die ich von führenden deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern erhalte, sowohl in Deutschland als auch auf dieser Reise.

Ergreifen wir also diese einmalige Gelegenheit, die Partnerschaft zwischen unseren beiden Ländern neu zu erfinden, auszubauen und an das anzupassen, was ich eine "Zeitenwende" genannt habe.

In Europa, so nah an Russlands Krieg, empfinden wir neuen Handlungsdruck, neuen Ansporn. Und ich weiß, dass Justin und viele von Ihnen hier das ebenso empfinden.

Ja, Kanada und Europa trennt ein Ozean. Aber in der heutigen globalisierten, schnellen und digitalen Welt spielt die geografische Entfernung eine geringere Rolle als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Was hingegen eine Rolle spielt, sind gemeinsame Werte und Ziele sowie der Wille, vorwärtszugehen.

All das haben wir - und noch mehr. Seit Juni haben Europa und Kanada quasi sogar eine gemeinsame Landgrenze. Auf der Hans-Insel, irgendwo zwischen der kanadischen Nordostküste und Grönland. Jahrzehntelang war sie Streitobjekt zwischen Kanada und Dänemark - bis eine Einigung dahingehend erzielt wurde, die Insel schlicht und einfach friedlich aufzuteilen.

Ich danke der Deutsch-Kanadischen Industrie- und Handelskammer für die freundliche Einladung. Und Ihnen allen dafür, dass sie heute Morgen hier sind!

(Diese Rede wurde auf Englisch gehalten und ins Deutsche übersetzt.)


Die Bundesregierung