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Alarmstufe Gas

Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Robert Habeck, in der Aktuellen Stunde „Kältewinter verhindern – Jetzt entschlossen und pragmatisch vorsorgen“ vor dem Deutschen Bundestag am 23. Juni 2022 in Berlin:

Bulletin 82-2

"Frau Präsidentin!

Starke Worte – „ideologische Verblendung“ – von einer Partei – das vielleicht vorweg –, die sich weiter in die Abhängigkeit von Putins Gas treiben lassen will, die die Sanktionen aufheben will, die im Grunde will, dass die Ukraine sich nicht so anstellen, sondern sich Putin unterwerfen soll. Man muss unterstellen, dass man schon sehr blind sein muss, um anderen da ideologische Verblendung vorzuwerfen. Diese Partei ist nicht gut für Deutschland; sie ist gut für Putin und selber in der eigenen ideologischen Blindheit verhaftet.

Ich bin nicht der Meinung, dass diese Debatte Symbolpolitik ist. Im Gegenteil: Man muss der CDU dankbar sein, dass wir heute die Gelegenheit zur Aussprache haben. Sie ist genau angemessen. Wir müssen uns darüber austauschen, parlamentarisch wie in der Gesellschaft, was eigentlich gerade passiert. Und diese Aktuelle Stunde kann dazu einen Beitrag leisten.

Dass wir diese Debatte führen, sollte allerdings auch verstanden werden als gemeinsame Debatte im Streit um die besten Argumente. Lieber Jens Spahn, Sie haben gefragt: Was ist passiert? Nun, passiert ist, dass Putin das gemacht hat, wovor einige – ich würde für mich reklamieren, auch ich – immer gewarnt haben: dass er den Gashahn zwar noch nicht komplett zugedreht hat, aber die Gaslieferungen schrittweise reduziert, um die Preise in Deutschland hoch zu halten, den Druck auf die Bevölkerung zu erhöhen und dieses Land zu spalten, um den Nährboden für seine Freunde von ganz rechts, im rechten Populismusspektrum zu bereiten.

Ich will aber auch daran erinnern – ich bemühe mich wirklich, diese Debatte auch mit den Kollegen auf der Landesebene als gemeinsame Austauschdebatte zu führen –, dass Ihr Fraktionsvorsitzender, lieber Jens Spahn, erst vor wenigen Wochen genau das gefordert hat, wovor Sie jetzt warnen, nämlich ein sofortiges Embargo von Gas einzuführen. Ich frage mich: Was ist passiert bei der Union? Gab es so wenige Kenntnisse um die Energieversorgung und Energiesicherheit in Deutschland?

Bei den konkreten Punkten will ich Ihnen gerne folgen beziehungsweise Punkte, wo wir selber noch nicht gut genug arbeiten, auch übernehmen. Aber es grenzt schon an Selbstherrlichkeit, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wie konntet ihr nur so langsam sein! Von einer Partei, die über Jahre, ja Jahrzehnte, die Abhängigkeit Deutschlands von einem – und das darf man nach 2014 und dem Angriff auf die Ukraine wohl schon sagen – mindestens zwielichtigen Herrscher immer größer gemacht hat und das, was uns wirklich helfen würde, nämlich die Unabhängigkeit durch den Ausbau von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz, systematisch abgewürgt hat, sich anzuhören, dass wir uns nicht gut genug vorbereitet hätten, das ist schon eine ziemliche Verdrehung der Wirklichkeit.

Wir sind vorbereitet, so gut man es eben sein kann, wenn man keine Datengrundlage für die Bundesnetzagentur vorfindet, wenn man keine Gesetze vorfindet, die überhaupt nur in irgendeiner Form politische Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Wir haben uns darauf vorbereitet. Das, was Sie jetzt staunend bewundern – die Vorschläge vom Wochenende und das Ausrufen der Alarmstufe –, ist exakt das Ergebnis dieser Vorbereitungen. Wir haben uns über Wochen und Monate Schritt für Schritt mit dem Szenario auseinandergesetzt. Wir machen jetzt konkrete Vorschläge und können die Gelder bereitstellen, um auf diese Situation zu reagieren.

Ja, es ist ärgerlich, dass wir den Gas-Auktionsmechanismus jetzt noch nicht haben. Aber wo kommt der Ärger denn her? Es gab null Datengrundlage, wo denn überhaupt die Gasverbräuche sind. Es sind die Bundesnetzagentur und der Trading Hub Europe, die jetzt in Windeseile ein digitales System erstellen müssen, um überhaupt zu verstehen, wo die Gasmengen in Deutschland verbraucht werden und wie sie zusammenhängen. Klar, es wäre super, schon alles fertig zu haben. War aber nicht; nur leere Schreibtische! Jetzt sind wir schneller als bei der Digitalisierung der Gesundheitsämter. Und wer hatte die noch eigentlich zu verantworten?

Dass wir die Voraussetzungen für Gesetze geschaffen haben, die jetzt in der Alarmstufe gegebenenfalls aktiviert werden können – und ich sage: können; denn die Alarmstufe ist die Voraussetzung für das, was jetzt im parlamentarischen Raum ist, nämlich das Kohle-rein-Gas-raus-Gesetz, das am 8. Juli verabschiedet werden soll und gebunden ist an die Alarmstufe –, ist Zeichen guter Vorbereitung. Dass wir einen Marktmechanismus etablieren und in der Gasalarmstufe einsetzen können, ist ein Zeichen guter Vorbereitung. Dass wir auch einen Preismechanismus einsetzen können über Paragraf 24 des Energiesicherungsgesetzes, ist ein Zeichen guter Vorbereitung. Aber das ist kein Spiel. Deswegen ist die Aktuelle Stunde wichtig, um zu verstehen, was gerade los ist.

Die Alarmstufe auszurufen, bedarf einer Analyse, was eigentlich los ist. Wir müssen einen Punkt überwinden, den wir alle in uns tragen: Es ist Sommer. Wir wollen eigentlich raus. Wir wollen nach zwei Pandemiesommern endlich mal wieder frei sein. Aber der Winter steht vor der Tür – jetzt schon; politisch steht er vor der Tür. Wir müssen dieses Vorsorgeparadoxon loswerden, dass wir jetzt, wo die Konsequenzen überhaupt noch nicht spürbar sind, nicht die Maßnahmen ergreifen wollen, die wir im Winter brauchen. Das ist die Herausforderung. Dafür leistet die Alarmstufe ein wichtiges Signal. Wir haben eine Gaskrise in Deutschland. Und wir haben diese Gaskrise in Deutschland, obwohl im Moment die Versorgungssicherheit gewährleistet ist und, ja, obwohl im Moment die Speicherstände steigen. Aber wenn es wieder kälter wird und möglicherweise weitere Szenarien eintreten – Sie haben es vielleicht schon gehört, dass vom 11. Juli an Nord Stream 1 regulär auf null gefahren wird, um Wartungsarbeiten durchzuführen; dann kommt also gar kein Gas mehr durch; in der Vergangenheit hat diese Wartungszeit ungefähr zehn Tage gedauert; das kann aber, wie die Lage aussieht, natürlich auch länger als zehn Tage dauern – und sich die Dinge verschärfen, dann rutschen wir in ein Szenario rein, wo wir nicht genug Gas haben werden, um über den Winter zu kommen. Deswegen ist jetzt jede Kraftanstrengung notwendig, das Gas, was wir einsparen können, einzusparen. Natürlich sind das schmerzhafte Entscheidungen.

Da Sie immer wieder mit Atom kommen, will ich es noch einmal klarstellen. Wir brauchen Gas. Wir müssen heizen, und das tun wir nicht mit Atomkraftwerken. Auch die Industrie braucht Wärme.

Die Aufgabe ist, die höheren CO2-Emissionen durch das Hereinnehmen von Kohlekraftwerken später wieder einzusparen. Das ist das Interessante, was gerade in Deutschland passiert. Wir haben eine Oberfläche, auf die stark geschaut wird: LNG, Gas, Kohlekraftwerke. Diese Oberfläche steht unter Druck. Sie ist zerkratzt. Sie ist zerbeult. Da gibt es keine guten Entscheidungen. Niemand sollte sich dafür rühmen, schwierige Entscheidungen zu treffen oder das gut zu finden.

Aber unterhalb der Oberfläche passiert eigentlich gerade das Entscheidende in diesem Land. Wir haben eine hohe Dynamik, erneuerbare Energien ausbauen zu wollen. Wir haben eine hohe Bereitschaft der Unternehmen zu investieren, und zwar in klimaneutrale Technologien. Die Anträge, auf Wasserstoff umzustellen, die Infrastruktur auszubauen, übersteigen jedes Fördervolumen. Wir haben im Moment eine hohe Nachfrage nach energetischer Gebäudesanierung. Jeder von uns hat sich hier hingestellt und gesagt: Wir sind da viel zu langsam; der schlafende Riese „Gebäudesanierung“. Bei einem Prozent oder weniger pro Jahr brauchen wir noch 100 Jahre, bis wir fertig sind. Auf einmal explodiert das geradezu, und wir haben zu wenig Handwerker für die Gebäudesanierung. Das passiert gerade in Deutschland.

Was unter der Oberfläche gerade besonders ist, ist die große Ge- und Entschlossenheit der Menschen. Wir haben eine hohe Inflation. Die Menschen leiden darunter, die Unternehmen leiden darunter. Trotzdem gibt es die Bereitschaft, zusammenzustehen und die Lasten gemeinsam zu tragen – da ist es unsere Aufgabe, die notwendigen Dinge zu tun, um die Lasten fair zu verteilen –, weil wir wissen, dass dieser Angriff ein Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist und dass wir diesen Angriff mit allem, was wir haben, zurückweisen müssen." 


Die Bundesregierung