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Ich habe was, was du nicht siehst

Chronische Erkrankungen sind oft unsichtbar, können das Studium aber erheblich erschweren.

Laut der aktuellen Studierendenbefragung Deutschland geben 11,87 Prozent der Befragten an der Universität Münster an, eine studienerschwerende Beeinträchtigung zu haben. Ein Großteil davon ist auf den ersten Blick nicht sichtbar, beeinflusst das Studium und den Studienalltag aber zum Teil erheblich. In Gastbeiträgen erzählen Anna-Lena, Nadine und Charlotte von ihren Erfahrungen.

Anna-Lena, Studentin (Latein und Geschichte):

Seit acht Jahren habe ich Epilepsie, eine weitgehend unsichtbare Krankheit. Ich erlitt jeden Tag mehrere Anfälle, große und kleine, bei denen ich entweder merkwürdige Dinge hörte, abwesend wirkte oder meine Arme und Beine zuckten. Letztendlich musste ein gutartiger Tumor aus meinem Gehirn operiert werden. Die Anfälle blieben. Aufgrund meiner Krankheit muss ich Medikamente mit erheblichen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Schwindelanfällen, Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten nehmen. All diese Einschränkungen wirken sich auf mein Studium aus: Wegen des starken Schwindels, der Kopfschmerzen oder des Muskelkaters, die ich von den Anfällen bekomme, muss ich an manchen Tagen zu Hause bleiben und verpasse einen Unitag. Auch die Konzentration in den Kursen fällt mir oft schwer. Zusätzlich habe ich noch Synästhesie. Ich nehme jedes Geräusch auch als Farbe wahr. Das macht es schwer, sich auf Gespräche zu konzentrieren.

Das Lateinstudium verlangt, ein komplettes Wörterbuch zu beherrschen, was für mich teilweise schwierig ist, da ich vieles vergesse. Mir würde es sehr helfen, wenn ich alle Vorlesungen streamen könnte, um sie anhalten und, wenn nötig, zurückspulen zu können. Ein Wörterbuch bei Klausuren wäre hilfreich, und ein Einzelraum würde meine Konzentration erheblich verbessern, da ich vom kleinsten Geräusch aufgeschreckt werde. Trotz all dieser Widrigkeiten mag ich mein Studium. Ich liebe es, Neues zu lernen. In diesem Semester habe ich zum Beispiel einen Kurs über Gebärdensprache und eine Vorlesung zu mittelalterlichen Krankheiten belegt. Außerdem unterrichte ich gerne und bin auch gut darin, deswegen möchte ich Lehrerin werden.

Video:

Nadine, Master-Studentin (Englisch und Geschichte für das Lehramt an Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen):

Ich lebe mit einer zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmusstörung (CSWD) und idiopathischer Hypersomnie (iH), die sich auf meinen Schlaf und mein Schlafverhalten auswirken. Mein Schlafrhythmus ist nach hinten verzögert. Abends kann ich nicht einschlafen und tagsüber bin ich permanent müde. Deshalb fällt es mir schwer, mich dem „normalen“ Arbeits- und Unialltag anzupassen. Bei der iH handelt es sich um eine seltene chronische Erkrankung, bei der man ein erhöhtes Schlafbedürfnis und exzessive Tagesschläfrigkeit hat. Ich kann mehr als elf Stunden schlafen und trotzdem tagsüber noch unkontrolliert einschlafen. Gegen die Erkrankung gibt es stimulierende Medikamente, die ich aber nur nehme, wenn es unbedingt nötig ist, weil die Langzeitfolgen unklar sind.

Die Schlafattacken beeinträchtigen mich auch im Studium. Wenn ich längere Zeit ruhig sitzen muss, kann es passieren, dass ich wegnicke. Aufgrund des erhöhten Schlafbedürfnisses und der Konzentrationsstörungen brauche ich mehr Zeit für alles, insbesondere für schriftliche Leistungen. Ich bevorzuge daher mündliche Prüfungen, die leider nicht immer angeboten werden. Im Master haben sich bei mir schriftliche Leistungen angestaut, die ich aktuell mithilfe des Schreib-Lese-Zentrums der WWU abarbeite.

Die psychische Belastung sowie die (negativen) Reaktionen Außenstehender sind ein ständiger Begleiter. Keiner kann sich von Vorurteilen freimachen, aber ich würde mir mehr Toleranz und Empathie im Umgang mit unseren Mitmenschen wünschen. Auch wenn es Phasen gibt, in denen es mir schwerer fällt, versuche ich, positiv zu denken und darauf zu achten, mir Zeit für Dinge, die mir Freude bereiten, aktiv zu nehmen.

Video: https://youtu.be/OHmS1zPjHAM


Charlotte, Studentin (Pharmazie):

Ich bin mit einer Mikrotie dritten Grades auf die Welt gekommen und seit der Geburt auf dem rechten Ohr taub. Die Mikrotie gehört zu den Ohrmuscheldysplasien. Das sind Fehlbildungen der Ohrmuschel, die oftmals mit einer Gehörgangsatresie einhergehen. Der Gehörgang ist dabei verschlossen oder erst gar nicht angelegt. Natürlich schränkt mich meine Schwerhörigkeit im Studium sowie in alltäglichen Situationen ein. Diese Einschränkungen sind oftmals anstrengender, als ich es zugeben möchte. Unter vielen Menschen zu sein, kann herausfordernd sein, denn wo viele Menschen sind, ist es laut. Ob im Hörsaal, im Labor oder in der Mensa – mein Universitätsalltag verlangt mir viel Konzentration ab. Konzentration, um zu entscheiden, welche Inhalte wichtig sind, welche Worte an mich gerichtet sind und welche Nebengeräusche ich ignorieren kann. Ich komme glücklicherweise selten in unangenehme Situationen, die allein auf meine Schwerhörigkeit zurückzuführen sind – aber ich komme schon mal in Erklärungsnot. Bestenfalls sitze ich in der ersten Reihe und Sitznachbarinnen und -nachbarn gesellen sich nur linksseitig neben mich.

Studierenden mit Beeinträchtigung wünsche ich den Mut, über ihre Beeinträchtigung im Studium zu sprechen: ob mit Kommilitoninnen und Kommilitonen, Lehrenden oder den Inklusionstutorinnen und -tutoren der WWU. Letztere unterstütze ich selbst und freue mich sehr, als Ansprechpartnerin für Studierende mit Beeinträchtigung EIN offenes Ohr zu haben.

Interessierte und Betroffene informiert Charlotte auf ihrem Instagram Account @lifewithmicrotia zum Thema Leben mit Mikrotie.

Video: https://youtu.be/79JVxhe9m_U



WWU

Foto: Anna-Lena, Charlotte und Nadine / © WWU - Sophie Pieper