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"Wir müssen uns dieser neuen Realität stellen"

Die Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock äußert sich zur Änderung des Grundgesetzes vor dem Deutschen Bundestag am 3. Juni 2022 in Berlin:

"Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Am 24. Februar sind wir in einer anderen Welt aufgewacht. In den 100 Tagen seitdem ist unsere Welt nicht besser, sondern noch brutaler geworden. Neben dem Vernichtungskrieg, den wir jetzt im Donbass erleben müssen, sehen wir zeitgleich einen russischen Kornkrieg und vor allen Dingen fatale Folgen weltweit in den ärmsten Ländern dieses Planeten. Russlands brutaler Angriffskrieg schafft, so bitter es ist, eine neue Realität in Europa – und er mahnt: Die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens ist ein teures, ein kostbares Gut, das wir jetzt im Zweifel auch militärisch verteidigen müssen.

Wir haben uns diese Welt nicht ausgesucht; aber wir müssen uns dieser neuen Realität stellen. Das ist der Sinn politischer Verantwortung. Gerade in diesen Zeiten, in denen alte Gewissheiten über Bord gehen, ist es umso wichtiger, dass wir uns dieser staatspolitischen Verantwortung fraktionsübergreifend stellen. Daher ist unsere Einigung auf das Sondervermögen auch mehr als nur 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Sie ist auch Ausdruck unserer Bündnis- und damit auch unserer Europafähigkeit. Wenn wir auf harte Sicherheit schauen, dann geht es eben nicht allein um Deutschland; denn wir sind keine Insel mitten in der Welt, zum Glück nicht. Verteidigung heute und in der Zukunft bedeutet noch viel mehr denn je kooperative Sicherheit.

Es ist gut, dass deswegen die Bündnisfähigkeit eben nicht aus dem Gesetz gestrichen worden ist, so wie die Union das eigentlich ursprünglich wollte. Ich fand es ja vorhin ganz süß, Herr Dobrindt, dass Sie gesagt haben, alle haben sich bewegt, nur wir nicht. Wenn Sie das für Ihr Ego brauchen, bitte schön. Ich würde auch lieber vergessen, dass Sie eigentlich zwei Prozent im Grundgesetz festschreiben wollten oder nur 75 Abgeordnete dafür stimmen lassen wollten. Aber was mich, ehrlich gesagt, verwundert hat – ja, deswegen habe ich auch so intensiv gemeinsam mit Ihnen diskutiert und gerungen –, ist, dass Sie als jahrzehntelange Europapartei – das war ja immer das große und, wie ich fand, wirklich beeindruckende Label der Union – ausgerechnet die Ertüchtigung von Partnern bis zur letzten Minute dogmatisch bekämpft haben. Das verwundert mich nicht nur; ehrlich gesagt, finde ich das nicht sehr verantwortungsvoll.

Denn Sie rufen ja jetzt auch wieder, und zwar zu Recht – das möchte ich unterstreichen; ich sehe das genauso wie Sie –, zu mehr militärischer Unterstützung gerade unserer Bündnispartner auf. Aber dann sind Sie nicht bereit gewesen, ebendiese Ertüchtigung unserer Partner auch über das Sondervermögen mitzufinanzieren. Es wäre ein kleiner Betrag gewesen. Er wäre wichtig gewesen. Das kann ich bis zuletzt nicht verstehen.

Ehrlich gesagt – das unterscheidet dann offensichtlich mich von Ihnen, Herr Dobrindt, oder die Union von den Grünen –, mir bricht kein Zacken aus der Krone, zu sagen: Ja, ich hätte den ursprünglichen Gesetzentwurf besser gefunden, weil er eben die Stabilisierung und Ertüchtigungshilfe mitbeinhaltet und weil er auch die Cyberfähigkeiten mitbeinhaltet. Man hört es doch an allen Ecken und Enden, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht nur sind, dass Raketen oder Bomben fallen können, sondern eben auch, dass in Zukunft auch Angriffe auf Krankenhäuser und Versorgungseinrichtungen passieren können.

Jetzt werden wir – das ist der Kompromiss – ebendiese Maßnahmen gemeinsam über das Errichtungsgesetz und über den nächsten Haushalt finanzieren. Ich sage aber auch sehr deutlich: Dann stehen alle gemeinsam in der Verantwortung; denn Sicherheit braucht eine umfassende Sicherheit, und dafür trägt dieses Hohe Haus auch für die nächsten Jahrzehnte eine besondere Verantwortung.

Auch wenn das Sondervermögen jetzt aus meiner Sicht weniger weitsichtig ist, ist es nicht weniger wichtig; denn die Defizite bei der Bundeswehr sind keine Sekunde länger tragbar: analoge Funksysteme, mit denen sich unsere Soldatinnen und Soldaten im Ernstfall nicht zuverlässig verständigen können, 350 Puma-Schützenpanzer, von denen nur 150 einsatzfähig sind. Zur Ehrlichkeit gehört: Wir holen das nach, was jahrelang eben nicht angegangen worden ist. Wir reformieren mit diesem Sondervermögen – die Verteidigungsministerin hat darauf hingewiesen – eben auch das Beschaffungswesen. Wir tun das – so ehrlich müssen Sie zu sich selbst sein –, was Teile der Union über lange Zeit nicht wollten, nämlich in den Mittelpunkt unserer Sicherheit die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten und des Bündnisses zu stellen und eben nicht die Interessen der Rüstungsindustrie oder desjenigen, der am lautesten ruft.

Da gab es in der Vergangenheit die absurdesten Vorgänge, um das hier einmal freundlich zu sagen. Puma oder A400M wurden beschafft – ohne Ersatzteile, Wartungsverträge oder auch Bewaffnung. Wir werden in Zukunft viel stärker Systeme von der Stange kaufen, die auch andere Streitkräfte bereits erprobt haben. Statt auf teure Eigenentwicklung zu setzen, weil das vielleicht im Wahlkreis, wo die Rüstungsindustrie zu Hause ist, so schön ankommt, wird es an dieser Stelle eine klare Transparenz beim Beschaffungswesen geben. Ich glaube, ein bisschen Selbstkritik an dieser Stelle wäre angebracht.

Zeitgleich ist klar: In dieser neuen Herausforderung reicht ein Sondervermögen nicht aus. Die Bündnisverteidigungsfähigkeit ist weit, weit mehr. Auch diese Fragen müssen wir gemeinsam angehen. Ich möchte an dieser Stelle einmal sehr deutlich sagen: Ich kann verstehen, dass einige von Ihnen hadern. Ich glaube, jeder von uns, wahrscheinlich aus allen Parteien und Fraktionen, wird angesprochen: 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr? Bei uns im Krankenhaus, da fehlen die Pflegekräfte. Bei uns in der Kita, da sind keine Erzieherinnen und Erzieher. Ich glaube, auch das ist die Verantwortung des heutigen Tages: uns diesen Fragen gemeinsam zu stellen.

Aber wir dürfen soziale Gerechtigkeit und Sicherheit jetzt nicht gegeneinander ausspielen. Das ist mein Appell an diejenigen, die noch hadern. Das Sondervermögen schafft Luft, gerade für andere Haushaltstitel. Ja, wir müssen die erst noch gemeinsam beschließen; aber wir wollen und werden es gemeinsam tun.

Denjenigen, die jetzt sagen: „Aber das Krankenhaus wurde jetzt nicht besser finanziert“, sage ich: Das stimmt; aber was wäre es in diesem Moment für ein Signal, wenn wir als Deutscher Bundestag, weil wir keine Zweidrittelmehrheit hinbekommen, jetzt Nein sagen? Wir sind in einer Zeit, wo unsere Bündnispartner uns brauchen, im Baltikum genauso wie im Sahel. Wir können nicht sagen: „Die Kampfhubschrauber sind weiterhin nicht da.“ Ich glaube, wir befinden uns in einem historischen Moment, nicht nur, weil wir in alten Gebäuden ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro beschließen, sondern auch, weil Deutschland sagt: „Wir sind da, wenn Europa uns braucht.“ Und Europa braucht uns jetzt, um unser kostbares Gut gemeinsam zu schützen: die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens.

Herzlichen Dank."




Die Bundesregierung

Foto: Annalena Baerbock / © gruene.de