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Rede von Bundespräsident Steinmeier

Bundespräsident Dr. Frank Walter Steinmeier bei einem Symposium zum Forum Bellevue: „Zur Zukunft der Demokratie – Wie stärken wir die Republik?“ am 11. März 2022 in Berlin:

Bulletin 29-2

"Wir alle stehen unter dem Eindruck der Bilder und Berichte aus Kiew, Charkiw, Odessa, Mariupol und vielen anderen Städten in der Ukraine. Der brutale Angriffskrieg, den der russische Präsident Putin seit mehr als zwei Wochen führt, die vielen Menschenleben, die dieser Überfall kostet, das Leid und die Zerstörung, die er mit sich bringt, all das erschüttert uns bis ins Mark.

Auch in diesen Stunden riskieren zahllose Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Leben, um ihre Republik gegen russische Truppen zu verteidigen. Der Kampf, den die Menschen in der Ukraine gegen einen militärisch übermächtigen Angreifer bestreiten, dieser Kampf ist nicht nur mutig, er setzt ein Beispiel. Er führt der Welt dramatisch vor Augen, dass Freiheit und Demokratie nicht auf ewig garantiert sind, dass sie heute wieder bekämpft werden, auch weil Autokratien sich von der Offenheit der Demokratie bedroht fühlen.

Für viele Menschen in unserem Land, in Europa und in der Welt der liberalen Demokratien ist Putins Krieg ein Schock. Aber dieser Schock hat uns nicht auseinandergetrieben oder gelähmt, sondern er hat uns zusammenrücken und entschlossener handeln lassen.

Wir erleben in diesen Tagen, wie die liberalen Demokratien in der Europäischen Union und im atlantischen Bündnis Seite an Seite stehen, um die ukrainische Unabhängigkeit zu unterstützen und ein Regime in die Schranken zu weisen, das ein anderes Land mit dem Ziel der Unterwerfung seiner Bürgerinnen und Bürger überfällt.

Wir erleben, wie hunderttausende Menschen, Frauen und Kinder aus der Ukraine in der Europäischen Union Zuflucht suchen und finden. Wir erleben, wie Millionen Menschen in ganz Europa auf die Straßen strömen, um ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Wir erleben, wie viele sich auch mit den Russinnen und Russen solidarisieren, die diesen Krieg nicht wollen, die unter seinen Folgen leiden, die mutig in Opposition stehen gegen das diktatorische Regime in Moskau und die für das Aussprechen der Wahrheit mit Haft und Schlimmerem bedroht werden.

Dieser Angriffskrieg, der immer deutlicher auch die Zivilbevölkerung in der Ukraine trifft, fordert uns heraus. Dieses Unrecht kann nicht ohne Antwort bleiben. Das fühlen die allermeisten Menschen auch in Deutschland mit großer Klarheit.

Die Zäsur, die der von Putin begonnene Angriffskrieg bedeutet, verlangt auch einen Preis. Nicht nur unsere humanitäre Solidarität bei der Aufnahme von fliehenden Menschen ist erneut gefordert. Auch die notwendigen, scharfen Sanktionen, die Russland isolieren, bringen unvermeidlich Lasten, Einbußen und Unsicherheiten auch für uns. Und damit noch nicht genug. Wir sind herausgefordert, unsere eigene Verteidigungsfähigkeit und die des Bündnisses zu stärken. Die Rückkehr des Krieges nach Europa lehrt uns, dass wir in der Lage sein müssen, uns gegen Angriffe zur Wehr zu setzen. Mit anderen Worten: Demokratien müssen wehrhaft sein, auch dann, wenn sich wieder diplomatische Möglichkeiten eröffnen. Denn erfolgreich verhandeln können wir nur aus einer Position der Stärke, nicht aus einer Position der Schwäche. Ich zitiere immer gerne den wunderbaren Satz aus der Amtsantrittsrede von John F. Kennedy: „Let us never negotiate out of fear. But let us never fear to negotiate.“

Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine wollen wir eine Bilanz unseres Forums zur Zukunft der Demokratie ziehen und den Blick nach vorn richten: Wie stärken wir die Republik? Und was können, was müssen wir jetzt tun, um die liberale Demokratie, die Europäische Union und das transatlantische Bündnis zukunftsfest zu machen?

Hier an diesem Tisch sind heute knapp dreißig Frauen und Männer aus Wissenschaft, Kultur, Medien und Politik zusammengekommen, die in den vergangenen Jahren an einer der insgesamt zwölf Ausgaben des Forum Bellevue teilgenommen haben. Sie leben oder arbeiten in Deutschland, Österreich, Bulgarien, Ungarn, den Niederlanden, Italien, Großbritannien oder den USA, sie schauen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die liberale Demokratie und natürlich auch auf ihre Gegner, und sie vertreten Standpunkte, die zum Nachdenken und sicherlich auch zum Widerspruch anregen. Sie alle stehen für eine Kultur der argumentativen Auseinandersetzung, von der unsere Demokratie lebt, aus der ihre Stärke erst erwächst.

Die meisten von Ihnen haben die Gedanken, die Sie hier in diesem Saal auf Podien vorgetragen haben, im vergangenen Jahr noch einmal neu formuliert, aktualisiert und weiterentwickelt. Auf diese Weise ist ein Buch entstanden, ein 432 Seiten starkes Plädoyer für die liberale Demokratie, das Wege in eine demokratische Zukunft weist.

Ich danke allen, die als Diskutanten und Autorinnen an diesem Forum und am Buch „Zur Zukunft der Demokratie“ mitgewirkt haben. Und ich danke der Bertelsmann-Stiftung und ganz besonders Ihnen, liebe Liz Mohn. Für Sie war diese Reihe eine Herzensanliegen! Wir danken für die Unterstützung, ohne die wir ein Forum dieser Größenordnung und ein solches Buchprojekt nicht hätten stemmen können. Ihnen allen meinen ganz, ganz herzlichen Dank! Und es ist großartig, dass wir Sie heute hier versammelt sehen.

In meiner Rede vor der Bundesversammlung am 13. Februar habe ich gesagt: Herr Putin, „unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!“ Ich hatte gute Gründe für diese Warnung. Und viele von diesen Gründen werden heute in der Debatte zwischen uns noch einmal aufscheinen.

Es ist mir, liebe Gäste, eine besondere Ehre, heute den Bundespräsidenten der Republik Österreich in unserer Runde begrüßen zu können. Lieber Alexander Van der Bellen, wir sind immer in Kontakt, wir haben uns gerade auch in den letzten Tagen telefonisch ausgetauscht, und ich weiß, wie sehr der Krieg in der Ukraine Dich und Deine Landsleute in Österreich besorgt und beunruhigt. Dass Du heute hier bist, um uns Deine Sicht auf die Lage und die Zukunft der Demokratie zu schildern, das ist nicht nur ein Zeichen von Freundschaft, sondern auch ein Symbol des Zusammenhalts in unserer europäischen Familie.

Lieber Alexander, ich freue mich, dass Du Dich heute auf uns einlässt und uns teilhaben lässt an Deinen Gedanken zur Zukunft der Demokratie. Herzlich willkommen Dir hier in Bellevue in Berlin!

„Welche Zukunft hat der Westen?“, das war die Frage, mit der wir das Forum Bellevue im September 2017 eröffnet haben. Damals – lange her, scheint es – hatte Donald Trump gerade das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten angetreten, die Regierung in London leitete den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ein, der Streit um die Aufnahme von Millionen Geflüchteten aus dem Krieg in Syrien erschütterte die europäische Gemeinschaft, und in vielen Demokratien gewannen Ressentiments und nationalistische Kräfte an Zulauf, eine neue Faszination des Autoritären schien sich breitzumachen.

Die Corona-Pandemie, die im Frühjahr 2020 ausbrach, hat Gräben in unserer Gesellschaft vertieft, sie hat neue Risse entstehen lassen, hat gezeigt, wie zerbrechlich das Vertrauen in demokratische Institutionen ist. Zumindest bei einem Teil der Bürgerinnen und Bürger ist dieses Vertrauen geschwunden. Auch die große Aufgabe, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schnell und konsequent umzusteuern, um die Erderwärmung zu stoppen, stellt die liberale Demokratie, stellt auch unseren Zusammenhalt auf eine neue Probe.

Die Erfahrung von Unübersichtlichkeit und Unsicherheit, von Komplexität und Kontingenz, die Erfahrung, dass in unserem Leben, in unserer Welt vieles möglich, aber nichts selbstverständlich ist, diese Erfahrung ist aus meiner Sicht eben kein Argument gegen, sondern sie ist ein starkes Argument für die liberale Demokratie!

Bei allen Herausforderungen, von denen ich gesprochen habe: Ich bleibe zuversichtlich. Denn die liberale Demokratie ist die einzige politische Ordnung, in der wir uns als politisch Freie und Gleiche den Tatsachen der Welt stellen; in der wir unser Schicksal nicht in fremde Hände legen, sondern Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten entwickeln; in der wir aus Fehlern lernen, vor allen Dingen in der Lage sind, unseren eingeschlagenen Kurs auch wieder zu korrigieren und vielleicht gerade deshalb die Dinge immer wieder zum Besseren wenden zu können.

Das ist im Alltag der Politik mühsam und anstrengend. Nicht immer sind wir in den Strapazen demokratischer Tagesarbeit beseelt von den hohen Werten dieser Gesellschaftsordnung. Und doch erleben wir in diesen Tagen, was wir verlieren würden, wenn wir sie aufgäben.

In der Demokratie nehmen wir die Gesellschaft so, wie sie ist: in all ihrer Vielfalt, mit ihren Gegensätzen, mit ihren Widersprüchen. Wir erkennen uns in unserer individuellen Unterschiedlichkeit als Bürgerinnen und Bürger an, die in gleicher Freiheit an politischen Entscheidungen mitwirken sollen und können. Die Diktatur hingegen kennt nur Parteigänger und Feinde, Hörige oder Ausgestoßene. Verschiedenheit ist ihr verdächtig, Widerspruch ist Verrat. An die Stelle lebendiger Debatte treten mehr und mehr die Kontrolle, die Strafe, die lähmende Angst und Gewalt.

In der Demokratie erkennen wir an, dass es das Volk immer nur im Plural gibt. Der Volkswille ist weder eindeutig noch einfach schon da; wir müssen ihn in offenen und unvollkommenen Verfahren immer wieder aufs Neue herstellen und zum Ausdruck bringen, indem wir mit Argumenten um die hoffentlich beste Lösung streiten, Wertkonflikte verhandeln, Interessen ausgleichen, Kompromisse schmieden. Vielleicht macht das gerade die innere und äußere Friedensfähigkeit der liberalen Gesellschaft aus. Jedenfalls: Der autoritäre Nationalismus spinnt ein völkisches Lügengewebe, in dem das Volk zu einem Geschichtsmythos mit angedichteten Kollektiveigenschaften und Besitzansprüchen wird. Gruppen, die davon abweichen, werden zum „Anti-Volk“ erklärt und mit Vernichtung bedroht. Das macht die innere und äußere Aggressivität des autoritären Nationalismus aus.

Wenn wir also die Demokratie aufgeben, weil sie uns zu mühsam ist, verlieren wir nicht nur unsere Freiheit, sondern letztlich auch die Chance, in dieser Welt der kulturellen Verschiedenheiten in Frieden miteinander zu leben.

Die Demokratie zu stärken, heißt aber auch, ihre Bedingungen zu erkennen und ihre Voraussetzungen zu verteidigen. Die Erosion dieser Bedingungen und Voraussetzungen beginnt nicht erst mit roher Gewalt. Sie setzt dort ein, wo Trägheit und Ungeduld, wo Reizbarkeit und Gleichgültigkeit die Oberhand gewinnen und wo die demokratische Mitte ihr Selbstbewusstsein verliert.

Damit die liberale Demokratie gelingen kann, braucht sie Institutionen der Willensbildung, in denen Entscheidungen getroffen und verantwortet werden können. Sie braucht starke Parlamente und kluge Köpfe, die den Weg in öffentliche Mandate und Ämter nicht scheuen. Sie braucht freie Kunst und unabhängige Medien, die zwischen Fakten und Falschnachrichten unterscheiden, Desinformation und Verschwörungstheorien aufdecken, viele Stimmen zu Wort kommen lassen und ein breites Publikum erreichen. Sie braucht Bildung, nicht zuletzt historische und politische Bildung, weil sie von aufgeklärten, kritischen, selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern lebt, die den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Die liberale Demokratie braucht eine freie Wissenschaft, weil sie keine realen Probleme lösen kann, ohne sich an belegbaren Sachverhalten und begründeten normativen Urteilen zu orientieren. Sie braucht einen Rechtsstaat, in dem politische Macht dem Recht unterworfen ist und wir vor staatlicher Willkür geschützt sind.

Und nicht zuletzt, sondern eigentlich an erster Stelle braucht die liberale Demokratie das Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger! Sie braucht Frauen und Männer, die sich nicht nur als ""Staatskunden"" verstehen, sondern als Staatsbürger, die sich einmischen und beteiligen, die sich um mehr kümmern als nur um sich selbst.

Wir müssen uns in dieser Zeit wieder auf die Werte und Stärken unserer Demokratie besinnen. Und wir müssen vor allem wieder lernen, für die liberale Demokratie zu streiten! Wir haben die besseren Argumente, bessere jedenfalls als die Feinde der offenen Gesellschaft. Gerade jetzt müssen wir Selbstbestimmung, Freiheit und Menschenrechte zu unserem gemeinsamen Anliegen machen, gerade jetzt müssen wir Partei ergreifen für die Sache der Demokratie!

Nach den friedlichen Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges haben viele von uns gehofft, dass es so etwas wie einen historischen Fortschritt gibt, dass wir uns auf dem Weg in eine Zukunft der Demokratie und der weltweiten Zusammenarbeit befinden. Und wir haben gehofft: Davon gibt es keinen Rückweg. Diese Hoffnung war trügerisch, wie wir heute wissen, aber vielleicht war sie als Leitstern unseres Handelns nicht ganz falsch. Im Gegenteil, den selbstbewussten Glauben an die Stärke von Freiheit und Demokratie, den brauchen wir heute umso mehr.

Spätestens in diesen Tagen haben wir verstanden: Frieden und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Sie verlangen von uns einen Preis, sie verlangen persönlichen Einsatz. Es ist an uns, den Bürgerinnen und Bürgern, die liberale Demokratie zu verteidigen und zu stärken. Es ist an uns, dafür zu sorgen, dass auch kommende Generationen ein selbstbestimmtes, ein gutes Leben auf diesem Planeten führen können.

Was wir gemeinsam tun können, tun wollen, tun müssen, darüber wollen wir gleich sprechen. Aber jetzt erst einmal überlasse ich meinem Freund und Kollegen Alexander Van der Bellen das Wort und damit auch das Mikrofon. Herzlichen Dank." 


Die Bundesregierung 

Titelbild: Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, offizielles Porträt./Bundesregierung/Steffen Kugler