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Rede von Bundespräsident

Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Festveranstaltung zu 100 Jahren Museum Folkwang am 5. Februar 2022 in Essen:

Bulletin 14-3

"„München leuchtete.“ Mit diesem berühmten, äußerst kurzen Satz beginnt Thomas Mann im Jahr 1902 eine Erzählung. Und es ist nicht nur der „Himmel von blauer Seide“ und der „Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages“, der die Stadt strahlen lässt: „Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft, die Kunst streckt ihr rosenumwundenes Scepter über die Stadt hin und lächelt […] ein […] Kultus der Linie, des Schmuckes, der Form, der Sinne, der Schönheit […] München leuchtete.“

Im selben Jahr, 1902, eröffnet in Hagen das erste Museum Folkwang, bevor die Sammlung dann 1922 hierher nach Essen kam. Weder 1902 noch 1922 hätte man wohl sagen können: Essen leuchtet. Essen qualmte, glühte und sprühte Funken. Diese tausend Feuer in den Hütten, den Hochöfen, den Dampfloks produzierten vor allem Dampf und Rauch. Der Dunst war selten der eines „ersten, schönen Junitages“. Und unter dem Ruß aus tausend Kaminen und Schornsteinen war ein „Himmel von blauer Seide“ auch nur selten sichtbar.

Nein, Essen leuchtete nicht, noch das Ruhrgebiet insgesamt. Hierhin kam 1922 nun die Sammlung, die Karl Ernst Osthaus zuerst in Hagen zusammengetragen und ausgestellt hatte. Also die wohl reichste und reichhaltigste an moderner und auch an außereuropäischer Kunst, die es damals gab. Hier begann dann tatsächlich etwas zu leuchten, das bis heute nicht aufgehört hat, die Besucher zu faszinieren. Eines der bedeutendsten Museen moderner Kunst Deutschlands, ja Europas war entstanden und wurde immer größer und schöner im Laufe der Jahre.

Auch nach dem Dritten Reich, als es durch die barbarische Kunstpolitik der Nazis wesentliche Teile seiner Sammlung verloren hatte, konnte das Museum Folkwang seine Sammlung nach und nach wieder ergänzen und wesentlich erweitern und so seinen Rang wiedergewinnen. Das verdankt es, wie auch seine erste Gründung, der beispielhaften Förderung durch Mäzene und Sponsoren, durch aktive, unablässige bürgergesellschaftliche Initiative. Der Folkwang-Museumsverein, der hier Miteigentümer der Sammlung ist und zugleich in wesentlichen Belangen Mitspracherecht hat, hat dabei von Anfang an bis heute eine bedeutende, eine große Rolle gespielt.

Die große Qualität der Sammlung, der wunderbare, erweiterte Bau und das große Engagement der Förderer, gerade aus der Wirtschaft – dieses exemplarische Zusammenspiel hat mich schnell überzeugt, nicht nur die Schirmherrschaft über die Jubiläumsausstellung zu übernehmen, sondern als Bundespräsident auch gemeinsam mit Ihnen heute dieses Fest zu begehen. Vieles hier in Essen kann auch für andere Orte in unserem Land als nachahmenswertes Beispiel dienen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass der Erweiterungsbau, wie ich weiß, im Zeit- und im Kostenplan geblieben ist. Wenn man aus Berlin kommt, ist das allein schon ein Grund zum Staunen.

Und ich will gleich noch etwas hervorheben, das mir für andere Einrichtungen überall in unserem Land beispielhaft zu sein scheint: dass nämlich der tägliche Eintritt in die Dauerausstellung kostenlos ist. Hierzu ist die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung aktiv geworden, jetzt verzichtet die Stadt Essen auf die Eintrittsgelder. Sie weiß offenbar, was sie hier für einen Schatz hat – und dass dieser Schatz für möglichst alle zugänglich sein sollte. Mein Glückwunsch zum Hundertjährigen schließt deshalb einen großen Dank für dieses vorbildliche Engagement ein.

Zugang für alle zu ermöglichen, das wissen Sie, ist in mehrfacher Hinsicht ein schwieriges Unterfangen, überall in der Republik. Das Museum Folkwang hier in Essen liegt, in Nachbarschaft zur Philharmonie und zum Aalto-Theater, südlich der A 40. Viele wissen, dass die frühere B1 fast überall im Ruhrgebiet eine spürbare Grenze zwischen Nord und Süd darstellt. Das gilt für Wohnqualität, für Bildungserfolge, für kulturelle Teilhabe. Sie steht aber symbolisch auch für viele Grenzen, die anderswo in bildungs- und kulturpolitischer Hinsicht existieren. Anderswo in Deutschland gibt es andere, aber sehr ähnliche Grenzen, die sich durch unsere Gesellschaft ziehen.

Der Erfolg unserer kulturpolitischen Bemühungen wird entscheidend davon abhängen, dass solche Grenzen überwunden werden, dass kulturelle Teilhabe tatsächlich für alle möglich und erlebbar wird. Beispielhaft gesagt: Auch nördlich der A 40 soll man wissen und sagen: Das ist unser Museum Folkwang, unsere Philharmonie, unser Aalto-Theater.

Die Kunst im Museum Folkwang führt uns in fremde Welten, in andere Erfahrungsräume und übrigens – nicht nur bei den Impressionisten – unter so manchen „Himmel aus blauer Seide“. Aber diese Kunst, auch wenn wir sie mit dem schlichten Wort „schön“ bezeichnen, führt uns keine heile Welt vor Augen. Wenn sie Heilendes zeigt, weiß sie vorher von Verletzung. Wenn sie das Rettende zeigt, weiß sie vorher von Gefahr. Und wenn sie Not, Elend, Verkümmerung und Trauer ausdrückt, schreit sie geradezu nach Hoffnung, nach Auswegen, nach Verbesserung.

Die Kunst, besonders wenn sie von so herausragender Qualität ist wie hier, lässt uns neu und Neues sehen. Diese Kunst führt uns die Welt vor, wie sie ist, aber sie spiegelt eben nicht nur, was wir sowieso schon wissen und was wir sozusagen schon zu sehen gelernt haben. Wir sehen, was ist, aber auch, was sein könnte. Wie man die Welt und uns Menschen in dieser Welt auch sehen kann. Die Kunst macht uns nicht zu besseren Menschen, aber vielleicht zu Menschen, die besser werden möchten und an einer besseren Welt mitbauen möchten. Nicht nur dazu, aber auch dazu brauchen wir die Kunst.

Eines der frühesten und gleichzeitig bedeutendsten Werke im Museum Folkwang ist vom französischen Künstler Honoré Daumier: „Ecce Homo“ – ein in der Kunstgeschichte immer wieder gestaltetes Motiv, hier besonders eindrucksvoll in seiner fast farblosen, schwarzgrauen Gestaltung. Um das Podium des Gerichtes tobt eine aufgewühlte Volksmenge. Der Zeigefinger des Richters zeigt auf den fast gesichtslosen Leidenden, auf das unschuldige Opfer, auf den gefesselten Todgeweihten: „Ecce Homo!“ Übersetzt: Seht, welch ein Mensch! Oder: Seht den Menschen! Oder: So ist der Mensch!

Manchmal ergreift uns wirkliche Erschütterung, wenn uns die Kunst vor Augen stellt – und nur große Kunst kann das –, wie armselig, wie trostbedürftig, wie hilfesuchend jeder Mensch manchmal sein kann und manchmal ist. Auch wir selber.

Und nur ein paar Schritte weiter kommen wir vielleicht dann zur „Mondnacht im Hafen von Boulogne“ von Theo van Rysselberghe – und sehen, wie schön die Welt sein kann, wie anheimelnd und wohnlich; und wie geborgen wir uns gelegentlich in ihr fühlen können. Für solche Kunst muss man einfach dankbar sein.

Das wohl bedeutendste Kunstwerk, das die Stadt Essen beherbergt, nicht weit von hier, in der Münsterkirche, ist die mehr als tausend Jahre alte Goldene Madonna. Man nennt sie hier, wie ich weiß, „Essen sein Schatz“. Wenn wir heute hundert Jahre Museum Folkwang feiern, können Sie und können wir alle wohl stolz und dankbar sagen: Essen sein anderer Schatz. Und: Essen leuchtet doch!

Glück auf!"


Die Bundesregierung