Zum Inhalt springen
OZD.news - News und Nachrichten zum Nachschlagen

Rede vom Bundespräsidenten

Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Betriebsrätetagung der IG Metall am 3. Februar 2022 in Berlin:

Bulletin 14-1

"Kein einziger Tag, keine Stunde vergeht, ohne dass Coronakrise und Klimaschutz durch alle Medien rauschen. Zu Recht, wie ich finde, und aus gutem Grund. Auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen ein Ende der Pandemie, und sie wollen eine saubere Umwelt für ihre Kinder und Enkel. Aber wir müssen mit demselben Ehrgeiz und demselben Ernst, wie wir an diese akuten Krisen herangehen, von der Lage in den Betrieben sprechen, von der Arbeit und von der sozialen Frage.

Jede große Krise der vergangenen Jahre ist in den Betrieben eingeschlagen. Und jede künftige Krise wird es auch tun. Ja, in unserer Gesellschaft gibt es Druck, Unsicherheit und Gereiztheit. Aber am Arbeitsplatz, da geht es um das Einkommen, da geht es um die Existenz der ganzen Familie, und da ist der Druck besonders hart, die Unsicherheit besonders belastend. Sie kennen das: Kolleginnen und Kollegen, die jeden Morgen vor dem Corona-Testzelt vor dem Werkstor Schlange stehen. Kollegen, die am Hochofen Maske tragen. Die von heute auf morgen in Kurzarbeit versetzt werden, auf bis zu vierzig Prozent des Einkommens verzichten. Oder die auf unbestimmte Zeit zum Arbeiten im Homeoffice an den Küchentisch verbannt sind und parallel das Homeschooling ihrer Kinder begleiten müssen. Vor allem immer wieder die brennende, aufwühlende Frage: Bleibt mein Arbeitsplatz sicher?

Das alles ist für Sie Alltag. Die Pandemie mutet Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit beinahe zwei Jahren vieles zu, sorgt für Frust. Frust, der oft bei Ihnen in den Betrieben und in den Betriebsräten landet. Ich möchte den heutigen Tag nutzen, um mich bei Ihnen zu bedanken. Mein Dank richtet sich an Sie alle, die heute hier im Café Moskau oder am Bildschirm per Video zugeschaltet sind. Danke für Ihre Hilfe, Ihren Einsatz, Ihren Willen, in Zeiten voller Ungewissheit schnelle und kreative Lösungen für Kolleginnen und Kollegen aus dem Boden zu stampfen. Seien Sie sicher: Mir ist aus zahlreichen Begegnungen und Gesprächen sehr bewusst, was Sie und Ihre Kollegen täglich leisten, um den Laden zusammenzuhalten, um die lange Zeit der Pandemie zu überstehen. Unsere Wirtschaft ist in dieser Zeit der Pandemie nicht in die Knie gegangen, die Industrie produziert, und solange das der Fall ist – trotz mancher Sorgen über Engpässe in den Lieferketten –, bedeutet das für ein Industrieland, wie wir es sind, dass Arbeit, Wohlstand, Versorgung und soziale Stabilität gewährleistet werden können. Das haben wir auch Ihnen und Ihren Kollegen in den Betrieben zu verdanken. Ich wünschte mir, dass darüber häufiger gesprochen wird.

Und ja, die Belastungen der Pandemie hinterlassen in jedem Betrieb und natürlich auch im Umgang miteinander Spuren. Mir kommt es darauf an, dass daraus keine unüberwindbaren Gräben erwachsen. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine laute Minderheit mit ihrem verantwortungslosen Gerede von einer angeblichen Coronadiktatur Kolleginnen und Kollegen, Bürgerinnen und Bürger gegeneinander aufbringt. Was für eine Beleidigung gerade für Sie alle, die die richtigen Maßnahmen zu finden versuchen – und immer wieder anzupassen – und versuchen, das Beste für die Mitarbeiter in den Betrieben herauszuholen. Sie sind das beste Beispiel dafür, dass wir – auch in Krisenzeiten – beieinanderbleiben, wenn wir füreinander einstehen. Solidarität ist eine starke Kraft, gerade in diesen Zeiten, und das sollten wir, das müssen wir bewahren.

Indem Sie Menschen in den Betrieben stärken, stärken Sie natürlich auch den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. In der Idee der Mitbestimmung steckt ein im Grunde urdemokratisches Motiv, weit mehr als betriebsverfassungsrechtlicher Alltag und weit mehr als ein Betätigungsfeld für Arbeitsrechtsexperten. Mitbestimmung heißt, dass Arbeitnehmer nicht bloße Befehlsempfänger sind. Mitbestimmung ist Wertschätzung, Mitbestimmung gibt Menschen eine eigene Stimme und befähigt sie, diese Gesellschaft mitzugestalten – und das nicht nur am Arbeitsplatz.

„Mehr Mitbestimmung wagen!“ – es ist sicher kein Zufall, dass im Titel Ihrer heutigen Tagung der Geist des Wandels und auch der emotionalen Auseinandersetzungen mitschwingt, den es Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre angesichts großer Veränderungen und Herausforderungen gab. Die Einsetzung von Betriebsräten war immer umstritten, immer umkämpft, schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Erste Anläufe begegneten dem harten Widerstand auf der Unternehmerseite, die sich in ihrem Status als „Herren“ des Betriebs gefährdet sah. Noch vor fünfzig Jahren war die Reformdebatte um die Mitbestimmung geprägt von der Machtfrage, wer im Betrieb das Sagen hat. Die Arbeitgeberseite brachte sich mit Rechtsgutachten in Stellung, die vor einer „Vergewaltigung des Unternehmers“ warnten. Es mag heute absurd klingen. Absurd deshalb, weil wir inzwischen wissen, dass die aktive Teilhabe der Arbeitnehmer an Entscheidungsprozessen im Grunde ein gewichtiger Pluspunkt der Innovation war und ist. Als im Januar 1972, vor fünfzig Jahren, das neue Betriebsverfassungsgesetz in Kraft trat, galt Mitbestimmung als die demokratische Antwort auch auf den damals stattfinden Wandel in der Wirtschaft.

Ich glaube übrigens, es lohnt sich – nicht nur für Gewerkschafter –, in diesem Jahr 2022 den Blick noch einmal zurückzuwerfen auf die Zeit vor fünfzig Jahren, auf eine Epoche voller Aufbrüche und voller Umbrüche. Neue Technologien erforderten bessere Qualifikationen der Beschäftigten. Der Begriff des Humankapitals als produktive Ressource machte damals die Runde und setzte sich durch. Die Öl- und Energiekrise bahnte sich an, der Club of Rome sprach von den „Grenzen des Wachstums“.

Heute, genau ein halbes Jahrhundert später, leben wir wieder in einer globalen Epoche der Umbrüche und der Aufbrüche. Mehr Aufbruch, sagen manche, mehr Umbruch, sagen andere. Und Verlust, sagen Dritte. Fest steht: Wir alle spüren den Druck der Veränderung. Kampf gegen den Klimawandel, die Transformation von Industrie und Gesellschaft, Digitalisierung, Automatisierung und Globalisierung – all das ist eng miteinander verwoben. Wenn wir von „der Transformation“ oder von „dem Wandel“ sprechen, dann ist das keine Ankündigung, kein abstraktes Ziel in weiter Ferne. Transformation findet im Alltag statt. Jetzt und täglich. Aus den Betrieben kommen Fragen, auch an die Betriebsräte. Wir hören sie im Augenblick bei den Autozulieferern zum Beispiel. Was kommt nach dem Verbrennungsmotor? Was wird aus den Arbeitsplätzen für die Getriebeherstellung? Kommen die Arbeitsplätze in der Elektromobilität? Und werden es genügend sein? Und was wird aus den Stahlwerken nach dem Ende der Kohle? Und ganz zentral: Gelingt uns rechtzeitig der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft für industrielle Prozesse, die wir nicht elektrifizieren können? Und wenn das gelingt, gibt es genügend Strom im Netz, um an jedem Standort den Bedarf zu decken? Alles wichtige, alles berechtigte Fragen. Diese Fragen brauchen überzeugende Antworten. Gerade in einer Phase des Wandels und der Veränderung.

Ich erlebe oft in Gesprächen, dass im Augenblick die Ungewissheit bei den Menschen stärker ist als die Zuversicht. Das hat vielleicht auch mit unseren gemeinsamen Erfahrungen im Umgang mit Transformation zu tun, und nicht nur mit den schlechten, auch mit den guten: Wir haben in Deutschland nicht zuletzt dank starker Industrie vor zwanzig Jahren die Massenarbeitslosigkeit überwunden. Wir sind das Land in Europa, das den höchsten Anteil industrieller Wertschöpfung seiner Volkswirtschaft hat – mit qualifizierten, innovativen und gut bezahlten Arbeitsplätzen für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Transformation – auch die unbestreitbar notwendige – ist eben nicht nur die bloße Fortschreibung der Gegenwart in die Zukunft. Auch die ökologisch überlebensnotwendige Transformation bricht natürlich, muss brechen mit Gewohntem, muss Dinge, an die wir uns gewöhnt haben, in Frage stellen. Hinzu kommt eine Erfahrung, die viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemacht haben: die Ungleichzeitigkeit; das, was entfällt, fehlt sofort; das, was neu entsteht, dauert. Werden deshalb Betriebsverfassung und Mitbestimmung weniger wichtig? Im Gegenteil!

Ich weiß aus persönlicher Erfahrung und erinnere mich gut: Mitbestimmung ist besonders bei einem Einbruch und Umbruch der Wirtschaft eine große Kraft in der Krisenbewältigung. Nach dem Konkurs der Lehman Brothers, gerade mal gut zehn Jahre her, während der Finanzmarktkrise von 2008 und 2009, kamen Vorstände und Betriebsräte damals reihenweise gemeinsam zur Bundesregierung, nicht nur, um Massenentlassungen abzuwenden, sondern vor allem, um eine Brücke über die tiefe Rezession zu bauen. Und es ist gelungen! Die Partnerschaft in der Verantwortung, die es damals gab, die wir damals gesehen und erlebt haben, sie hat sich bewährt.

Ich weiß nicht, ob folgende Geschichte wahr ist. Wenn nicht, ist sie gut erfunden: Als Henry Fords Enkel, auch Henry mit Vornamen, den Gewerkschaftsführer Walter Reuther einmal durch das automatisierte Automobilwerk führte, fragte er provokant: „Walter, wie werden Sie diese Roboter dazu bringen, Ihre Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen?“ Worauf Reuther erwiderte: „Henry, wie werden Sie diese Roboter dazu bringen, Ihre Autos zu kaufen?“ Auch wenn ich der IG Metall wünschen würde, dass Roboter Gewerkschaftsbeiträge zahlen, offenbart dieser kleine Schlagabtausch doch die ständige Ambivalenz des Fortschrittsversprechens: Fortschritt, dieses Wort oszilliert zwischen Hoffnung und Befürchtungen, zwischen Erleichterung und Belastungen, ja, auch zwischen Gewinnern und Verlierern. Solche Ambivalenzen dürfen wir nicht beiseite wischen. Wenn Fortschritt gelingen soll, brauchen wir eben diese starken, belastbaren Brücken in die Zukunft, breit genug, dass alle darüber gehen können. Sichere Arbeit gehört genauso dazu wie Anerkennung, Solidarität und Mitbestimmung.

Wenn ich an die Zukunft denke, halte ich wenig von Extremszenarien. Ich glaube weder an die Utopien der Silicon-Valley-Apostel, an die Heilsversprechen des Metaverse, noch an die Weltuntergangsfantasien von Technologie- und Fortschrittsverweigerern. Ich glaube, wir stehen schlicht vor der Aufgabe, Fortschritt zu ermöglichen und ihm zugleich gesellschaftliche und politische Leitplanken anheimzugeben. Wir stehen vor der Aufgabe, den Wandel zu demokratisieren. Denn nicht Algorithmen bestimmen, wer in der Werkshalle welche Aufgabe übernimmt. Nicht Algorithmen handeln Tarifverträge aus. Nein, Menschen programmieren die Algorithmen, und wo nötig, können sie auch korrigiert werden. Menschen gestalten den Wandel. Und sie sind bereit, das haben wir erlebt, in diesem Wandel Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Transformation nur gelingen kann, wenn Menschen mitbestimmen, wohin die Reise geht. Mitbestimmung ist in meinen Augen sogar vielleicht der wesentliche Teil jener Selbstbestimmung, die unsere liberale Demokratie verspricht. Und deshalb ist Mitbestimmung kein Wagnis, wie es noch vor fünfzig Jahren lautete, sondern schlicht ein Akt demokratischer Vernunft.

Es ist kein Zufall: In diesen Wochen wird wieder über Ungleichheit und Armut gesprochen. Wirtschaftlich, sozial und auch politisch – Ungleichheit ist eine wesentliche Ursache für Misstrauen in staatliche Institutionen und für die von manchen befürchtete Erosion der Demokratie. Wer sich jeden Tag Sorgen darüber macht, woher das Geld für Miete, Heizung und Lebensmittel kommt, der hat weder Zeit noch einen freien Kopf für Politik und politisches Engagement. Die geringere Wahlbeteiligung von Menschen mit kleineren Einkommen zeigt das.

Ungleichheit und Armut bekämpfen wir am besten durch gute Ausbildung und durch qualifizierte Arbeit. Und wir müssen verhindern, dass die Transformation, die unvermeidlich ist und stattfinden wird, Ungleichheit und Armut noch verschärft. Wer einmal im Silicon Valley gewesen ist, wer die Villen der Startup-Milliardäre und Stars gesehen hat und, nur ein paar Kilometer weiter, die Obdachlosen auf den Straßen von San Francisco, weil Wohnraum selbst für Menschen in Arbeit unbezahlbar geworden ist – liebe Christiane Benner, wir haben das während unserer gemeinsamen Reise 2018 nach Kalifornien erlebt–, der weiß, dass diese krasse Schere eine sehr reale Gefahr ist. Eine sehr reale Gefahr, die wir in Deutschland abwenden müssen und auch abwenden können.

Die Transformation ist auch eine soziale Frage, und unsere Soziale Marktwirtschaft verlangt darauf gute Antworten. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Fortschritt sich nur für eine Minderheit auszahlt und die Verwundbaren auf der Strecke bleiben. Sonst verlieren Menschen das Vertrauen in die Zukunft und suchen Zuflucht bei den einfachen, den falschen Lockrufen der Populisten und Extremisten.

Wenn die integrative Kraft der Arbeit sich durch Mitbestimmung und Mitverantwortung entfalten kann, dann, so bin ich überzeugt, stärkt sie den sozialen Zusammenhalt. Und dafür brauchen wir eine starke Interessenvertretung der Beschäftigten. Dafür brauchen wir Sie, meine Damen und Herren, denn Sie sind das Parlament der Arbeit.

Und deshalb möchte ich mit einer sehr konkreten Bitte an alle Beschäftigten enden, die mir wirklich am Herzen liegt: Nehmen Sie an den anstehenden Betriebsratswahlen teil! Gestalten Sie alle unsere Zukunft mit, eine Zukunft in Demokratie und Freiheit!"


Die Bundesregierung