Zum Inhalt springen
OZD.news - News und Nachrichten zum Nachschlagen

Heiko Maas zur aktuellen Lage im Nahen und Mittleren Osten

Seit Tagen sind wir ununterbrochen in Kontakt mit den europäischen Kollegen, mit Mike Pompeo, mit dem Nato-Generalsekretär, mit Josep Borrell, dem Außenbeauftragten der Europäischen Union, mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und mit vielen Amtskollegen aus der Region


Herr Präsident.
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, man kann sich bei diesem Thema lange Vorreden sparen. Das neue Jahr hat im Krisenmodus begonnen, und zwar in einer Art und Weise, wie wir das selten erlebt haben. Nach mehreren iranischen Provokationen und der Tötung von General Soleimani durch die USA befand sich die Region vor wenigen Tagen am Rand eines Krieges – nicht mehr und nicht weniger.

In dieser Lage standen und stehen für uns nach wie vor drei Dinge im Vordergrund: erstens die akute Krise – denn wir befinden uns nach wie vor in einer Krise – diplomatisch zu entschärfen, zweitens die Nuklearvereinbarung mit dem Iran zu erhalten und drittens die Stabilität und die Einheit des Iraks zu sichern. Sie ist eng mit der Fortsetzung des Kampfes gegen den IS verbunden, und dabei geht es um ureigene europäische Sicherheitsinteressen.

Zur Deeskalation: Auch wenn die akute Gefahr eines militärischen Konfliktes für den Moment gebannt zu sein scheint, bleibt die Lage nach wie vor ernst. Das ist mir vorgestern bei einem Besuch in Jordanien noch einmal deutlich geworden, und zwar sowohl in den Gesprächen mit unseren Soldatinnen und Soldaten als auch mit dem jordanischen Kollegen, dem Außenminister Ayman Safadi.

Dass alle Beteiligten nach dem Blick in den Abgrund – nichts anderes war das in den letzten Tagen – inzwischen einen Schritt zurückgegangen sind, verdanken wir – da bin ich mir sicher – auch denjenigen, die sich in den letzten Tagen gemeinsam mit uns für die Deeskalation in diesem Konflikt eingesetzt haben. Seit Tagen sind wir nahezu ununterbrochen in Kontakt mit den europäischen Kollegen, mit Mike Pompeo, mit dem Nato-Generalsekretär, mit Josep Borrell, dem Außenbeauftragten der Europäischen Union, mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und mit vielen Amtskollegen aus der Region, im Übrigen auch mit dem iranischen Außenminister Javad Zarif.

Zugute kommt uns Europäern dabei – das ist in den letzten Tagen auch sehr deutlich geworden –, dass wir belastbare Gesprächskanäle zu allen Seiten haben. Die haben wir genutzt, und die werden wir auch in den kommenden Tagen und Wochen weiter nutzen. Zugute kommt uns auch, dass Europa in diesem Konflikt von Anfang an mit einer Stimme gesprochen hat. Wichtig war dafür der Sonderrat der EU-Außenminister am Freitag, den der EU-Außenbeauftragte Borrell auf unsere Bitte hin einberufen hat. Wir haben ihm ein klares Mandat gegeben, in den nächsten Tagen in der Region, insbesondere in Bagdad, weiter auf Deeskalation hinzuwirken, und zwar im Namen der Europäischen Union insgesamt.

Bereits am nächsten Montag werden wir uns erneut im Kreis der EU-Außenminister treffen, um die weiteren Schritte miteinander abzustimmen. Ich kann Ihnen sagen: Auch die am Sonntag geplante Berliner Libyen-Konferenz werden wir nutzen, um am Rande mit allen wichtigen Akteuren aus der Region die Lage am Golf zu besprechen und nach weiteren Schritten und Möglichkeiten der Deeskalation zu suchen.

Der zweite Handlungsstrang betrifft die Nuklearvereinbarung mit dem Iran. Unser oberstes Ziel ist und wird bleiben, dass der Iran keinen Zugang zu Nuklearwaffen erhalten darf. Deshalb mussten wir handeln, als der Iran am 5. Januar angekündigt hat, auch noch die letzten Beschränkungen für die Urananreicherung aufgeben zu wollen. Deshalb haben wir gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien den im Nuklearabkommen vorgesehenen Streitschlichtungsmechanismus aktiviert, wohlgemerkt, nicht um aus der Vereinbarung auszusteigen, sondern um innerhalb der vorgegebenen Verfahren den Iran dazu zu bringen, vollständig zu seinen Verpflichtungen zurückzukehren. Der Streitschlichtungsmechanismus ist genau für diese Fälle geschaffen worden. Er gibt uns jetzt den nötigen Verhandlungsspielraum. Es gibt keinen Automatismus hin zur Befassung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen oder zum Wiedereinsetzen der Sanktionen. Klar ist aber ganz genauso: Wir werden uns nicht ewig von Teheran hinhalten lassen.

Diejenigen, die jetzt unseren endgültigen Ausstieg aus der Nuklearvereinbarung fordern – die gibt es auch –, muss man ganz offen fragen: Was wäre dadurch gewonnen? In keinem Land der Welt werden mehr Kontrollen der Internationalen Atomenergiebehörde durchgeführt als im Iran. Die Zeit, die der Iran zur Entwicklung von Nuklearwaffen bräuchte, ist heute trotz der Verletzungen des Iran immer noch deutlich länger als vor Inkrafttreten der Nuklearvereinbarung. Auch die Gespräche über die destabilisierende Rolle des Iran in der Region oder über sein ballistisches Raketenprogramm werden keinen Deut leichter, wenn wir durch den Wegfall der Nuklearvereinbarung ein zusätzliches Problem schaffen.

Letztlich wird sich der Iran entscheiden müssen, ob er kooperiert oder ob er sich immer weiter in die Isolation begibt. Das gilt übrigens auch mit Blick auf den schrecklichen Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine durch die iranische Flugabwehr. Der Iran schuldet den Opfern und den betroffenen Ländern nicht nur eine Entschuldigung, die er auch ausgesprochen hat, sondern er schuldet vor allen Dingen Transparenz und volle Kooperation, damit alles bis zum letzten Deut aufgeklärt wird.

Den Menschen, die nun im Iran auf die Straße gehen, schuldet die iranische Führung, dass sie ihr Recht auf friedliche Demonstration und Meinungsfreiheit achtet. Niemand, der dort auf die Straße geht, nur um seine Meinung zu sagen, hat es verdient, von den dortigen Sicherheitskräften diskriminiert oder angegriffen zu werden.

Der dritte Punkt betrifft den Irak. Wenn wir in Europa ein Interesse haben, dann vor allen Dingen ein erhebliches Sicherheitsinteresse daran, dass das Land durch den jüngsten Konflikt nicht wieder in Krieg und Chaos zurückgeworfen wird. Das droht aber gerade. Schließlich sind die Folgen der IS-Terrorherrschaft noch lange nicht überwunden. Nach wie vor können über 1,5 Millionen Binnenvertriebene nicht in ihre Heimatorte im Irak zurückkehren. Der IS stellt weiterhin eine reale Gefahr für die Sicherheit des Irak und der ganzen Region dar. Das haben die Anschläge, die es in den letzten Wochen gegeben hat, durchgeführt vom IS im Irak, noch einmal eindrücklich unter Beweis gestellt.

Wir haben in den letzten Jahren im Irak viel erreicht: beim Kampf gegen den IS und bei der Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte, aber vor allen Dingen auch im zivilen Bereich durch ein wirklich hohes Maß an humanitärer Hilfe, an Stabilisierung und an Wiederaufbau. Jetzt gilt es, diese Erfolge zu sichern. Bei allen Überlegungen, wie das gelingen kann, hat – das will ich noch einmal für die Bundesregierung festhalten – die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten höchste Priorität. Deshalb war es richtig, die Kontingente vorübergehend aus den besonders gefährdeten Gebieten im Irak zu verlegen. Deshalb habe ich auch den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die ich vorgestern in al-Asrak, in Jordanien besucht habe, unsere Wertschätzung überbracht.

Wie sehr dieser Einsatz geschätzt wird, das haben uns gerade unsere jordanischen Gesprächspartner erneut bestätigt. Er wird nicht nur geschätzt, sondern auch in Zukunft für notwendig erachtet. Nach allem, was unsere Soldatinnen und Soldaten in den letzten Tagen erlebt haben – und das ist alles andere als einfach gewesen –, aber auch im Kampf gegen den IS zuvor schon geleistet haben, sollten wir ihnen auch heute von dieser Stelle aus ein herzliches Dankeschön sagen.

Unser Ziel bleibt, unsere Unterstützung und die Ausbildung fortzuführen, damit der IS nicht wieder Fuß fassen kann im Irak oder auch in der Region. Wenn der IS im Irak neue Spielräume bekommt, um sich in dieser Region wieder auszubreiten und sie zu destabilisieren, dann ist im nächsten Schritt die Sicherheit in Europa gefährdet. Deshalb liegt das in unserem ureigenen Sicherheitsinteresse.

Die Vertreter des Auswärtigen Amtes und der gesamten Bundesregierung, die in den letzten Tagen im Irak waren, um mit der dortigen Regierung, aber auch mit den Vertretern des Parlaments zu sprechen, haben gestern den irakischen Premierminister Abdul Mahdi getroffen, um über das internationale Engagement gegen den IS zu sprechen. Der Premierminister – das kann ich Ihnen berichten – hat bestätigt, dass Bagdad an der Fortsetzung dieses internationalen Engagements großes Interesse hat, und hat sich in den Gesprächen mit uns für einen Verbleib der Bundeswehr im Irak ausgesprochen.

Es gibt eine Resolution des Parlamentes, und an der wird man nicht vorbeikommen. Deshalb ist es richtig, dass die Verantwortlichen in Bagdad nicht nur mit der Regierung sprechen, sondern die Regierung auch mit dem Parlament. Wir haben den Verantwortlichen deutlich gesagt: Wir werden die Souveränität des Irak immer respektieren. Das heißt, wir werden jede Entscheidung, die dort getroffen wird, akzeptieren. Aber wir werben dafür, dass wir die Unterstützung, die wir bisher geleistet haben, fortsetzen können, weil wir alles andere für einen Beitrag zur Instabilität im Irak halten. Daran kann im Irak niemand ein Interesse haben, und wir haben daran auch kein Interesse.

Deshalb sollten wir Europäer insgesamt weiter Kurs halten. Dieser Kurs lautet: Wir wollen keine weiteren Eskalationen – wir werden diplomatisch alles aufbieten, um dem entgegenzuwirken.

Wir wollen konsequent den Kampf gegen den IS fortführen. Und wir setzen auf vernünftige Diplomatie statt maximalen Druck.

Herzlichen Dank.

BPA