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Muskelkater für's Gehirn

Weltverbesserung auf vier mal vier Metern: Wenn ein Iraner in Münster deutsche Tugenden kultiviert

1992 kam Farid Vatanparast nach Deutschland, seit 2006 kommt deutscher Boxnachwuchs zu ihm. Zwölf mal drei Minuten und eine Tasse Kaffee bei Münsters Boxadresse Nummer eins. Ein Gespräch zwischen Spucknapf, Stoppuhr, Seilchen und Schweiß mit der zweiten Vorsitzenden von „Münster Boxzentrum e.V".


Marliese Kosmider ist eine eher unscheinbare freundliche Dame, die sich vor einigen Jahren selbst nicht vorstellen konnte, einmal zweite Vorsitzende eines Boxvereins zu sein. Ihre pädagogischen Wurzeln als ehemalige Lehrerin prädestinieren jedoch die „Mutter der Kompanie“ als perfekte Besetzung für diese Position.

Erster Vorsitzender und Gründer der Initiative „Farid’s QualiFighting“ ist der 40-jährige Ex-Profiboxer, Unternehmer und Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management in Dortmund, Farid Vatanparast. Der Lohn von 13 Jahren ambitioniertem Sozialengagement, etliche Deutschen Meistertitel sowie Europa- und sogar Weltmeisterschaftsmedaillen, aber nicht für den ehemaligen Profiboxer, sondern für den Münsteraner Nachwuchs aus Coerde, Kinderhaus und Co.

Als Farid Vatanparast Anfang der 2000er Jahre für die olympischen Spiele nominiert wurde, war seine Welt in Ordnung und die Boxkarriere auf dem Höhepunkt. Was könnte jetzt noch kommen?

Man ahnt es: Alles kommt ganz anders, als es geplant war. Der ehemalige Klasse-Boxer verunglückt schwer mit dem Auto und verliert dabei ein Auge. Jetzt steht alles wieder auf Null. Alle Träume, Hoffnungen und Ziele, die der heutige Professor Dr. Farid Vatanparast einst hegte, zerplatzen wie eine Seifenblase.

Aber der gebürtige Teheraner erinnerte sich an seine Kindheit. Nicht aufgeben, weiter machen, fleißig sein. Logisch, dass, als man ihn auf ein Boxprojekt für Jugendliche anspricht, Mamas Mantra „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ zum mittlerweile sehr erfolgreichen sozial-integrativen Projekt „Farid´s Qualifighting“ am Schiffahrter Damm 395 in Münster führte.

Wie man sich das vorzustellen hat, habe ich direkt mitbekommen. Kaum haben Marliese Kosmider und ich uns die Hand gegeben, stürmt ein hübsches Mädchen in die moderne Sporthalle: Hallo, Frau Kosmider, ich zieh mich eben um.“- „Gibst du mir noch schnell dein Zeugnis?“ war die Antwort, denn wer hier boxt, macht erst die Hausaufgaben und dann den Gegner platt.

Zehn Euro kostet das Boxen für alle, die vorher ihre Hausaufgaben in den heiligen Hallen machen, 20 Euro, wenn nicht. Und das Prinzip geht auf, denn mittlerweile steht man kurz vor der Bundesligareife und wurde auch schon mit Preisen bedacht. Denn „für Boxen braucht man den Kopf frei“ hat mir einmal ein Freund aus Frankfurt gesagt, dessen Nase so aussieht, als habe er den Sport eher in der Ritze in Hamburg als im „Münster Boxzentrum e.V“ ausgeübt.

Mittlerweile sind etwa 80 Jugendliche aus allen Gesellschafts- und Altersschichten mit Sandsack und Ringrichter so vertraut wie mit dem schulischen Stoff, denn „wer so krank ist, dass er nicht zur Schule geht, der ist auch zu krank zum Boxen“, lautet die Ansage von Marliese Kosmider und der Erfolg gibt ihr Recht.

„Farid´s QualiFighting“ ist ein Integrations- und Motivationskonzept, das Kindern und Jugendlichen auch, aber nicht nur aus sozialen Brennpunkten, hilft, mit Kritik besser umzugehen und die eigenen Stärken und Schwächen besser auszuloten. Der Sport ist dabei das Motivationstool Nummer eins, damit der „Zukunftsplan“ des jeweiligen Zöglings nicht blanke Theorie bleibt.

Für mich war Boxen bisher "Adriaaaaaaaaan!" und siffige Hinterhofecken mit halbseidenen Gestalten, die sich gern über Fäuste definieren. Seit meinem Besuch am Stadtrand, der mit dem Bus gut zu erreichen ist, wurde ich aber eines Besseren belehrt: Modernste Trainingsanlage, alles in einem Topzustand und mit motivierten Jugendlichen. Übrigens, wie eben bereits angedeutet, sind 30 Prozent der Schützlinge weiblich und stehen den männlichen Athleten in Nichts nach.

„Und weil ihr schon groß seid, macht ihr auch große Fehler“ sind die Kommentare des Trainers beim Seilchenspringen. Aber statt wütender Proteste, regt sich nur Ehrgeiz: Dem werd ich's zeigen.

Der Träger des deutschen Bürgerpreises 2012, Farid Vatanparast und Marliese Kosmider haben da etwas aus dem Boden gestampft, das die Welt verändert. Nicht indem man bei der UN in New York große Reden schwingt, sondern durch Verantwortung im eigenen Umkreis. Wenn jeder macht was er kann, wird die Welt zu einem besseren Ort, denn „das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht kennt“ zitiert Farid Vatanparast Blaise Pascal auf seiner Homepage.

Möge das Rossini noch viel abwerfen, sodass auch weiterhin an jene gedacht werden kann, die beim Essen gehen eher an Pommes rot-weiß als an Kalbsragout denken.

„Are you ready to rumble?!“ Dann gibt es hier nähere Infos:

https://www.faridvatanparast.de

oder am Schiffahrter Damm 395 ein paar dicke Handschuhe und bestimmt etwas Muskelkater, auch im Gehirn.

Fotos: Farid’s QualiFighting und Ulf Münstermann