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Hinter den Kulissen

Reporter ohne Grenzen (RSF) ist erleichtert über konkrete Aufnahmezusagen für fast 150 afghanische Journalistinnen und Journalisten durch die Bundesregierung.

RSF hatte diese hoch gefährdeten Fälle im Rahmen einer über mehrere Wochen erstellten Namensliste an das Auswärtige Amt übermittelt. Rund 40 konnten Afghanistan mit Unterstützung von RSF bereits verlassen, elf von ihnen sind inzwischen in Deutschland, wo sie weiter von RSF betreut werden. Weitere zehn Medienschaffende und ihre Familien konnten in der Nacht von Donnerstag auf Freitag aus der pakistanischen Hauptstadt Islamabad einreisen. Die Organisation setzt fortlaufend alle Hebel in Bewegung, um trotz „Schließung“ der Liste schutzbedürftiger Personen der Bundesregierung weitere Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan und Dutzende Medienschaffende in Drittstaaten zu unterstützen.

„Hinter diesen Zahlen stehen menschliche Schicksale. Es sind Journalistinnen und Journalisten, die in den vergangenen zwanzig Jahren dazu beigetragen haben, in Afghanistan eine plurale und lebendige Medienlandschaft aufzubauen. Es sind mutige Reporterinnen und Reporter, die trotz der Gefahren unter anderem durch die Taliban berichtet haben. Jede Person, die wir unterstützen können, ist die Mühe und den Frust nach gescheiterten Rettungsversuchen wert“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir werden keine Ruhe geben, solange Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan weiter in Lebensgefahr schweben.“


Die rund 150 Medienschaffenden gehören zu den 2600 besonders schutzbedürftigen Personen und ihren Familien, denen das Bundesinnenministerium Aufnahmezusagen erteilt hat. RSF hatte dafür eine mehrmals aktualisierte Namensliste mit hoch gefährdeten Medienschaffenden an das Auswärtige Amt geschickt. In einem ausführlichen Verifizierungsprozess hat die Organisation zuvor bereits alle der Bundesregierung übermittelten Fälle überprüft. Jede Anfrage an RSF unterläuft einer Bestätigung der journalistischen Tätigkeit der Person und Überprüfung ihrer spezifischen Bedrohungslage durch RSF-Mitarbeitende vor Ort in Afghanistan sowie in Berlin ansässige Kolleginnen, die als exilierte afghanische Journalistinnen über einen detaillierten Einblick in die afghanische Medienwelt verfügen. Im Rahmen der Verifizierung werden eingereichte Dokumente sowie die öffentlich zugängliche journalistische Arbeit geprüft.


Besonders gefährdete Journalistinnen haben Aufnahmezusage

Unter den 150 Personen sind 44 Journalistinnen, die in zweifacher Hinsicht gefährdet sind: als Reporterin und als Frau. Die Arbeitsbedingungen waren vor Ort schon vor dem Siegeszug der Taliban besonders gefährlich für Frauen im Journalismus. Seitdem die Extremistengruppe die Macht übernommen hat, hat sich die Lage noch mal verschärft. In Afghanistan entwickelt sich zudem eine Medienlandschaft, in der Journalistinnen zunehmend fehlen werden. In der Hauptstadt Kabul etwa ist die Zahl der Frauen, die für die acht größten Medienunternehmen arbeiteten, von mehr als 500 auf unter 80 gesunken. Auch in den Provinzen Kabul, Herat und Balkh waren die meisten Journalistinnen gezwungen, ihre Arbeit einzustellen.

Unter den 14 bereits in Deutschland angekommenen afghanischen Medienschaffenden und ihren Familien sind auch eine hochschwangere Frau eines Investigativ-Journalisten und der Journalist Ahmad Wahid Payman, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Hasht e Subh. In einem Anfang Oktober veröffentlichten Gastbeitrag im Magazin Der Spiegel beschreibt Payman, wie er als Kind in Afghanistan mit den Taliban schreckliche Szenen erlebt hat und die Angst nach der erneuten Machtübernahme der Extremistengruppe. „Ich habe zahllose Artikel und Berichte zur Unterstützung der jungen Demokratie in Afghanistan geschrieben in diesen Jahren. Deshalb sehen meine Familie und ich uns durch die Taliban massiv bedroht.“

Payman ist über den Iran nach Deutschland gekommen und damit einer von vielen afghanischen Journalistinnen und Journalisten, die zunächst in Drittstaaten geflohen sind. Von den rund 150 Personen der RSF-Liste mit Aufnahmezusage sind insgesamt 33 in Transitländern, darunter neben dem Iran unter anderem auch Pakistan, die Türkei, Tadschikistan und Usbekistan. Auch in diesen Drittstaaten sind Journalistinnen und Journalisten gefährdet, weil die Pressefreiheit vor Ort eingeschränkt wird und sie im schlimmsten Fall zurück nach Afghanistan müssen, wenn ihre Visa ablaufen. Das gilt insbesondere für die Medienschaffenden, die nicht auf der Liste stehen. Reporter ohne Grenzen fordert die deutschen Behörden auf, auch hier akut bedrohten Medienschaffenden schnell und unbürokratisch humanitäre Visa auszustellen.

In den vergangenen Wochen hat RSF mit anderen Organisationen zusammengearbeitet, um Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan zu helfen. Die am Donnerstag aus Islamabad eingereisten Medienschaffenden und Familien etwa haben es auch mithilfe der zivilgesellschaftlichen „Kabul Luftbrücke“ Initiative außer Landes geschafft und konnten mithilfe eines Charterfluges der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) weiter nach Deutschland fliegen. Auch eine Journalistin, die in Islamabad noch auf die Weiterreise nach Deutschland wartet, kam mit einem durch die “Kabul Luftbrücke” gemieteten Bus nach Islamabad.

Zu den 150 Personen auf der Liste gehören außerdem 14 Familien von Exiljournalistinnen und -journalisten in Deutschland. Rund die Hälfte der insgesamt 150 Personen mit Aufnahmezusage hat eine Verbindung zu Deutschland. Neben Deutschland gab es für einige wenige Medienschaffende auf der RSF-Liste weitere Zielländer: Vier afghanische Journalistinnen und Journalisten sind mittlerweile in Spanien, Kanada, Großbritannien und der Schweiz angekommen.


Weiter intransparenter Umgang mit Kernfamilien

Zu den rund 150 Journalistinnen und Journalisten kommen auch noch Familienmitglieder hinzu, sodass die RSF-Liste insgesamt mehr als 500 Personen umfasst. Hier bleibt weiter unklar, wie viele von ihnen Auswärtiges Amt und Bundesinnenministerium über die Kernfamilie hinaus anerkennt. Als Kernfamilie zählt der Partner oder die Partnerin sowie Kinder unter 18 Jahren. Eltern gehören nicht dazu. RSF erinnert daran, dass nicht nur einzelne Medienschaffende und ihre Kernfamilien, sondern in der Regel der ganze Haushalt gemeinsam gefährdet ist. Das Risiko für die Familie kann sogar steigen, wenn die Taliban, die teils von Haus zu Haus gehen, die gesuchte Person nicht antreffen.

Nicht nachvollziehbar bleibt zudem die Entscheidung, die Liste des Auswärtigen Amtes an das Bundesinnenministerium zu „schließen“, wodurch nach einem bestimmten Stichtag keine Fälle mehr aufgenommen werden können. Noch immer erreichen RSF täglich verzweifelte Hilferufe afghanischer Journalistinnen und Journalisten, die es nicht geschafft haben, mit einem Evakuierungsflug aus Kabul gerettet zu werden.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die vor der de-facto Machtübernahme der Taliban veröffentlicht wurde, steht Afghanistan auf Platz 122 von 180 Staaten. Mehr zur Situation für Journalistinnen und Journalisten vor Ort finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/afghanistan.