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Angela Merkel musste von Krise zu Krise hetzen

Kommunikationswissenschaftler Thomas Birkner über das Ende der "Ära Merkel"

Vor der Bundestagswahl am kommenden Sonntag (26.9.) sind naturgemäß die meisten Fragen noch unbeantwortet, aber eines steht bereits fest: Die Bundeskanzlerin wird abtreten – viele Beobachter sprechen deswegen vom „Ende der Ära Angela Merkel“. In seinem Buch „Medienkanzler – politische Kommunikation in der Kanzlerdemokratie“ hat sich der Kommunikationswissenschaftler Dr. Thomas Birkner von der Universität Münster intensiv mit den bisher sieben deutschen Kanzlern und der Kanzlerin beschäftigt – Norbert Robers sprach mit ihm über die Charakteristika der Ära Merkel.

Mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl und dem Ausscheiden der Bundeskanzlerin spricht man häufig in der Öffentlichkeit von der „Ära Merkel“. Zu Recht?

Ja. Allein der internationale Vergleich zeigt, wie viele amerikanische und französische Präsidenten sowie britische Premierminister Angela Merkel hat kommen und gehen sehen. Nur der türkische Präsident Erdoğan und der russische Präsident Putin waren bereits vor ihr im Amt und bleiben uns auch noch länger erhalten. Im nationalen Vergleich war nur Helmut Kohl ebenfalls so lange als Kanzler verantwortlich. Viele unserer Studierenden kennen keine andere Person an der Regierungsspitze als Bundeskanzlerin Merkel.


Also kennzeichnet eine „Ära“ vor allem die Dauer?Es ist nicht nur die Dauer. Angela Merkel wird allein dadurch Spuren hinterlassen, dass sie dieses Amt als erste Frau ausgefüllt hat, und zwar über eine so lange Zeitspanne, dass diese Funktion 16 Jahre lang Kanzlerin hieß. Es darf aber auch gerne etwas mehr sein, vor allem intellektuell und gesellschaftspolitisch. Und da hat sie es vielleicht versäumt, uns auf dem Weg zu einer geschlechtergerechteren Gesellschaft mehr mitzunehmen und eine Vision zu vermitteln.

Hat Angela Merkel also die Tatsache, dass sie die erste Frau in diesem Amt war, zu schwach „ausgespielt“?


Das sehe ich tatsächlich so. Aber möglicherweise hätte eine offensivere Gangart die Gesellschaft auch überfordert. Merkel hat zumeist den Zeitgeist gut eingefangen und nüchtern analysiert, dass es dann doch nicht mehr sein dürfe. Der Nachteil: Über ihre gesamte Kanzlerschaft hat sie das große Narrativ, den roten Faden, vermissen lassen.


Was sind stattdessen die wesentlichen Kennzeichen der Ära Merkel?

Angela Merkel musste von Krise zu Krise hetzen: Finanz-Krise, „Euro-Krise“, „Flüchtlings-Krise“, Klima-Krise und schließlich die Corona-Krise. Sie hat es durch ihr Krisenmanagement und ihre Kommunikation geschafft, dass die Bevölkerung ihr in den meisten Fällen und mehrheitlich vertraute. Mit einer Ausnahme: In der so genannten Flüchtlings-Krise im Jahr 2015 ist es ihr nicht gelungen, ihre Entscheidung der Mehrheit der Menschen plausibel zu erklären. Nach ihrer starken Ansprache zu Beginn der Corona-Krise hat sie über den Sommer 2020 allerdings geschwiegen und wirkte danach zunehmend fahrig – ein Beispiel dafür war die Rücknahme der geplanten Corona-Ruhetage über Ostern in diesem Jahr. Ihre anschließende Entschuldigung war allerdings ebenfalls beispiellos. An diesem Fall kann man den Konflikt zwischen der Einsicht in das politisch Notwendige und dem Problem der Umsetzung deutlich beobachten. Mit Blick auf das Thema Klimawandel ist dieser Konflikt noch deutlich        gravierender.


Sie haben sich intensiv mit den Amtszeiten aller deutschen Kanzler beschäftigt: Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede gibt es mit Blick auf Angela Merkel?

In den Zeiten abseits der Krisen – auch die hat es, man mag es kaum glauben, in der Ära Merkel gegeben – hat man ihr vorgeworfen, gar nicht zu regieren, sondern nur zu moderieren, wie man dies Kurt Georg Kiesinger nachgesagt hat, oder die Dinge auszusitzen wie Helmut Kohl. Gerade durch ihr Krisenmanagement erinnert Angela Merkel aber vor allem an Helmut Schmidt, der das Land in den 1970ern durch die Ölkrise und die Zeit der Terroranschläge durch die ,Rote Armee Fraktion‘ (RAF) geführt hat und der dafür viel Respekt im Inland, vor allem aber im Ausland bekam. Dabei müssen wir natürlich die jeweilige Informationspolitik unterscheiden. Merkel hat oft beruhigende (,Die Spareinlagen sind sicher‘), ermutigende (,Wir schaffen das‘) und auch mahnende Worte (,Es ist ernst‘) gefunden und konnte gerade in der Corona-Krise durch das Vorrechnen und Erklären epidemiologischer Entwicklungen als Naturwissenschaftlerin glänzen. Die Regierung Schmidt musste in der Auseinandersetzung mit der RAF teilweise in akuten Gefahrensituationen taktisch kommunizieren und demonstrative Entschlossenheit zeigen, sich nicht dem Terror zu beugen. Allerdings hat Schmidt beim Thema Nachrüstung seine Politik über seinen Machterhalt gestellt, Gerhard Schröder bei seiner Agenda 2010 ebenso. Eine Besonderheit von Angela Merkel ist es, dass sie die erste in der Reihe der deutschen Nachkriegskanzler ist, die freiwillig geht. Die Einordnung der Ära Merkel bleibt, zumindest kurz vor ihrem Ende, ambivalent. Für eine fundierte Analyse braucht es noch einige Jahre.

Sie sind Experte für das Verhältnis der Kanzler zu den Medien. Gerhard Schröder betonte einst, dass er vor allem „Bild, Bams und Glotze“ zum Regieren brauche.

Welches Verhältnis hatten die Medien zu Angela Merkel?

Die Medien haben, wie weite Teile des politischen Systems ebenfalls, Merkel zunächst unterschätzt. Sie haben sie zu Beginn hart angegangen und mussten doch feststellen, dass sie vergleichsweise wenig Angriffsfläche bietet. Und so haben sich die Medien an Merkel abgearbeitet, ohne sie am Ende wirklich durchschaut zu haben. In Summe hat das Wechselspiel zwischen Politik und Medien in der Ära Merkel gut funktioniert. Die Medien standen vielfach inhaltlich in großer Zahl an Merkels Seite, was ihnen den deplatzierten Vorwurf der ,Systemmedien‘ eingebracht hat. Merkel war dort, wo sie stand, häufig nur schwer zu kritisieren, auch durch ihre Art der sehr kalkulierenden Kommunikation. Den Medien ist es nicht gelungen, Erklärungen einzufordern, besonders an den Stellen, wo die Krisen noch nicht überwunden sind – Klima, Migration, Corona. Allerdings gehört es zur Analyse dazu, dass wir während der Ära Merkel einen intensiven Medienwandel beobachtet haben, beispielsweise mit Blick auf den enormen Bedeutungszuwachs der sozialen Medien. Angela Merkel hat in diesem Zusammenhang etwas ungelenk, aber aus ihrer Perspektive ehrlich von ,Neuland‘ gesprochen. Dieser Umbruch geht einher mit einer Krise des Journalismus, die ebenfalls unsere Zeit prägt.


Und umgekehrt – welches Verhältnis pflegte die Bundeskanzlerin zu den Medien?

Die Politik hinkt dem Medienwandel immer deutlich hinterher. Kohl hat erst in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit das Privatfernsehen für seine Zwecke genutzt, Schröder hat keinen Internetwahlkampf geführt. Merkel hat sich zunächst bei ihren beiden Amtsvorgängern Kohl und Schröder abgeschaut, was sie vermeiden sollte – weniger Nähe zu den Medien à la ,Bild, Bams und Glotze‘ wie bei Schröder beispielsweise, aber auch weniger Konfrontation, wie sie Helmut Kohl gerade mit den Hamburger Medien wie ,Spiegel‘ oder ,Stern‘ pflegte. Sie hat sich um ein möglichst ausgewogenes Verhältnis von Nähe und Distanz zu den Medien bemüht und war dabei, auch dank ihres Regierungssprechers Steffen Seibert, sehr erfolgreich. Zudem hat sie der Versuchung widerstanden, die Krise des Journalismus für sich zu nutzen und das Kräfteverhältnis zu verschieben. Aber die Möglichkeiten sind da. Über die sozialen Medien kann sich die Politik ohne Journalismus direkt an die Bevölkerung wenden. Das geschieht noch in einem überschaubaren Rahmen, aber ich vermute, dass dies nach der Ära Merkel zunehmen wird. Dass sie zum Beispiel, anders als ihre Vorgänger, darauf verzichtet hat, ihr Privatleben massenmedial zu inszenieren, hat nicht nur mit ihrem Kommunikationsstil zu tun, sondern auch mit dem Machtverfall der entsprechenden Medien.


Die Bilanz vieler politischer Journalisten fällt in einem Satz etwa folgendermaßen aus: Angela Merkels größte Stärke sei ihre Fähigkeit gewesen, komplizierte Zusammenhänge aus distanzierter Beobachtung zu verstehen und daraus Schlüsse für ihre Politik zu ziehen – ihre größte Schwäche war es demnach, dass es ihr nicht wirklich gelang, für irgendein Thema Begeisterung zu wecken. Stimmen Sie dem zu?

Grundsätzlich ja. Merkels analytische Fähigkeiten sind enorm – auch darin ähnelt sie Helmut Schmidt. Mann oder Frau muss nicht gleich mit seiner/ihrer Vision zum Arzt gehen, wie er es einst empfahl. Aber die große Erzählung ihrer Kanzlerschaft steht noch aus.


Pressestelle der Universität Münster