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Operation am offenen Herzen

Das Münsterland plant vollmundig die Verkehrswende. Endlich hat man sich zusammengefunden, um dem jeden Tag aufs Neue drohenden Verkehrsinfarkt zu begegnen. Der Verein Debatte-Münster diskutierte am vergangenen Freitag dazu mit Fachleuten

Ganz auf der Höhe der Zeit sah sich der Verein Debatte-Münster als er am vergangenen Freitag zur Diskussion um die Verkehrswende  in Münster mit Fachleuten in die Stadtbücherei einlud. Denn nur wenige Tage zuvor waren Markus Lewe und seine Amtskollegen der Umlandgemeinden mit dem Konzept an die Öffentlichkeit getreten, gemeinsam eine S-Bahn-Münsterland aufzubauen. Vieles darin erscheint als alter Wein in neuen Schläuchen – einiges ist neu und durchaus ehrgeizig. Alleine mehr Züge und Busse auf die Strecken zu schicken, wäre schon eine Verbesserung.  

Verkehrsexperte Prof. Dr. Heiner Monheim zeigt auf wie bereits in der Vergangenheit die Schiene in den Städten, Kommunen und im Land eine herausragende Bedeutung hatte. Darauf können man aufbauen. - Foto: Jörg Bockow

Vor diesem Hintergrund umriss Georg Hundt in seiner Einführung mit ein paar ernüchternden Zahlen die aktuelle Problemlage und den dringenden Handlungsbedarf. Er kann, das wurde jedem der rund 150 Zuhörerinnen und Zuhörern in der Stadtbücherei schnell deutlich, kaum schlimmer werden.  

Rund 300.000 Pendler versuchen jeden Tag die Stadt mit dem Auto zu erreichen und stehen vorhersehbar bereits am Stadtrand im Stau. 70.000 Pendler fallen über die Schiene in der Stadt ein, um hier zu arbeiten und bescheren auch dem neuen Hauptbahnhof Münster, der für 100.000 Reisende vorbereitet ist, eine große Auslastung und schon bald vorhersehbare Kapazitätsprobleme, zumal wenn man wie mit dem geplanten S-Bahnnetz Münsterland wieder vermehrt auf die Schiene setzt und der Hauptbahnhof zu einer Drehscheibe werden soll.  

(v.l.) Joachim Brendel, Verkehrsexperte der hiesigen IHK-Nordwestfalen, Prof. Dr. Heiner Monheim, Verkehrswissenschaftler aus Tier, Georg Hundt von Debatte-Münster e.V und Uwe Schade, Geschäftsführer des Regio-Verbundes in Freiburg - Foto: Jörg Bockow

Rund 300.000 Fahrten finden pro Tag in der Stadt selber statt, was das Leben und Arbeiten in der Stadt zusätzlich erschwert. Damit sei Münster im Verhältnis von Bewohnern zu Pendlern die Pendler-Hauptstadt des Landes. „Vielleicht sogar ganz Deutschlands“ mutmaßt Georg Hundt.  

Auf dem Podium bereit zu debattieren saßen: Prof. Dr. Heiner Monheim, Verkehrswissenschaftler aus Trier, Uwe Schade, Geschäftsführer des Regio-Verbundes in Freiburg und Joachim Brendel, Verkehrsexperte der hiesigen IHK-Nord-Westfalen. Sie gaben in ihren Einführungen und Statements eine Steilvorlage für die Überlegungen der hiesigen Verkehrspolitiker, den Verkehrskollaps in der Stadt zu beheben: Die Schiene muss belebt werden – oder, wo sie auf stillgelegte Strecken zurück greift, reanimiert werden.  

So zeigte Heiner Monheim in seinem Vortrag auf, wie in den letzten 100 Jahren aus einem einst in Europa vorzeigbaren Schienenland „ohne Not und mit Druck der Autoindustrie“ ein Autoland geworden sei. Und wie man heute die in den vergangenen Jahrzehnten rückgebauten Schienennetze der Straßen-, Stadt-, Regional- und Bundesbahnen mit großem Aufwand wieder neubeleben will, weil der Schienenverkehr, vor allem im öffentlich Personen-Nahverkehr, unbestrittene Vorzüge gegenüber dem motorisierten Individualverkehr vorweist.

Selbst die Deutsche Bahn versuche inzwischen eine Wende und die Abkehr von der unter dem Vorstandsvorsitzenden Mehrdorn betriebenen Sparpolitik. Aktuell nutzt und bewirtschaftet die Bahn rund 33.000 Kilometer Schienen in Deutschland. Mit Hochdruck arbeitet man derzeit daran, rund 11.000 Kilometer Schienen wieder zu aktivieren und in das Netz zu integrieren. Ähnlich ergeht es vielen Städten und Gemeinden, die auch mit dem Ausbau der Schiene und die Neuerfindung der Straßenbahn den öffentlich Personen-Nahverkehr neu in den Griff zu bringen versuchen.  

Anschaulich breitet Referent Uwe Schade das Beispiel des Verbundes im Freiburg aus und zeigt wie schnell das neue und zusätzliche Angebot von den Menschen in der Region angenommen und genutzt wurde. Ein gutes Zeichen für das geplante S-Bahnnetz im Münsterland. Deutlich wurde aber auch, dass es vor Ort einen tatkräftigen und durchsetzungsstarken „Kümmerer“ braucht, damit das Projekt gelingt. Denn auch gescheiterte Projekte gibt es im Land. Münster muss sich also schnellstens an Best-Practice-Beispielen orientieren und endlich in die Hände spucken. Denn es gelte noch viele „dicke Bretter zu bohren“, warnte der Verkehrsexperte. Wichtig und entscheidend sei es am Ende des Tages, die Kunden durch eine gute Kommunikation mitzunehmen.

Eine gehörige Portion Skepsis und Kritik brachte Verkehrsexperte Joachim Brendel in die Diskussion ein. Seiner Einschätzung nach fehle immer noch ein Konzept, das alle Verkehrssystem in eine systemische Betrachtung nähme. „Noch sehe ich nicht, wie unsere Betriebe und deren Mitarbeiter von den Plänen profitieren sollen.“ Die angedeuteten Verbesserungen seien aus seiner Sicht eher marginal.  

Man könne beispielsweise nicht einfach mit restriktiven Maßnahmen eigene Busspuren in der Stadt einrichten, ohne andere Maßnahmen zu ergreifen, da das vorhandene Bussystem selbst noch keine wirkliche Alternative zum Individualverkehr darstelle und letztlich nur eine kleine Gruppe von Pendler bevorzuge – „zu Lasten derjenigen, die weiterhin jeden Tag mit dem Auto in die Stadt kommen ‚müssen‘.“    

Brendel befand, es brauche in der Stadt selber und am Rande der Stadt mehr Parkplätze und Parkhäuser, ansonsten würde sich nichts verändern, sondern vorhersehbar nur verschlimmern. Er begrüßte ausdrücklich das Konzept der Münsterland S-Bahn warnte aber davor, am System der Straße mit Einzelmaßnahmen herumzudoktern, ehe das neue und zusätzliche Angebot nicht bereitstünde. Und dann stellt er die kostspieligen Anstrengungen bei der Bevorzugung des Fahrradverkehrs in der Stadt und die geplanten Velorouten kritisch zur Diskussion. „Die sind ja ganz nett. Sie werden aber für den drohenden Verkehrsinfarkt kaum eine Entlastung bringen.“ Bei schlechtem Wetter würden Pendler aus Telgte beispielsweise wieder in ihre Fahrzeige steigen, um trockenen Fußes zur Arbeit nach Münster zu fahren.  

Eines ist trotz aller vollmundigen Erklärungen klar. Die genervten Pendler werden sich noch einige Zeit gedulden müssen: Die Umsetzung des neues Verkehrskonzepts der Stadt Münster und der umliegenden Kommunen wird noch Jahre dauern. Dabei ist schon jetzt klar, dass vieles davon nur ein Etikettenschwindel ist, denn die meisten Strecken sind schon da, sie sollen nur anders – vor allem häufiger und pünktlicher – bespielt und befahren werden. Was immerhin schon ein großer Fortschritt wäre.  

Die Verantwortlichen stellen die Einweihung des geplanten S-Bahnnetzes im Münsterland für 2030 in Aussicht. Das ist mehr als ehrgeizig, weil in zehn Jahren eine solche Mammutaufgabe zu stemmen, bedeutet viel Arbeit und ein noch nicht bezifferter Investionsbedarf von „einem höheren dreistelligen Millionenbetrag“, wie ein Teilnehmer erklärte. Also müssen der Bund und das Land, am besten auch gleich die EU mitspielen.

Ein Zeithorizont von bis zu 20 Jahren erscheint unter diesen Prämissen realistischer, zumal wenn durch neue Streckenabschnitte und Elektrifizierung Planungsrecht greifen würde. Bis dahin also werden sich Pendler und Reisende weiter quälen müssen – morgens nach Münster rein und abends aus Münster raus.  

Die wachsenden Verkehrsströme sind seit Jahren bekannt. Das Problem nachhaltig zu beheben ist schlichtweg verschlafen worden. Und die Zahl der Pendler wird jeden Tag spürbar größer. Münsters Bevölkerung wächst und wächst, aber damit werden parallel die Wohnprobleme größer. Immer mehr Menschen ziehen daher ins Umland, weil ihr Wohnraum in der Stadt schlichtweg nicht mehr bezahlbar ist.  

Auch hier zeichnet sich ein Versäumnis der Politik über Jahrzehnte ab. Es wird und wurde viel geredet, gehandelt aber nur halbherzig. Jetzt also droht jeden Tag der Verkehrsinfarkt. Der Tag beginnt mit Stau und er endet mit Stau. Die Menschen sind sauer. Zu Recht.  

Sie stellten Anfang Dezember das Konzept „S-Bahn Münsterland“ der Öffentlichkeit vor (v.l.): Dr. Kai Zwicker (Landrat Borken), Dr. Olaf Gericke (Landrat Warendorf), Oberbürgermeister Markus Lewe (Münster), Dr. Klaus Effing (Landrat Steinfurt),  Dr. Linus Tepe (Kreisdirektor Coesfeld) und Joachim Künzel (Geschäftsführer NWL). Foto: Presseamt Münste

Was wird aktuell von der Stadt Münster und den umliegenden Kreise geplant? Um in Zeiten steigender Bevölkerungszahlen und Mobilität den Menschen in der Region weitere Angebote im Schienennahverkehr  machen zu können, haben die Stadt Münster und die Münsterland-Kreise Borken, Coesfeld, Steinfurt und Warendorf gemeinsam mit dem Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) ein Konzept „Münsterland S-Bahn“ auf den Weg gebracht. Die Konzeption erfolgte unter Einbindung des Kompetenzcenters Integraler Taktfahrplan NRW (KC ITF) und eines renommierten Gutachterbüros.  

Das Konzept soll als Teil des übergeordneten Projektes „Mobiles Münsterland“ ein wesentliches Element der zukünftigen Mobilität, bestehend aus unterschiedlichen sich ergänzenden Verkehrsarten sein, wie etwa auch ein (Schnell-)Bus-Konzept.  

Vorgesehen ist eine engere Taktung der Verbindungen vom Münsterland in die Stadt Münster (und umgekehrt), eine Ausweitung der Verbindungen wie auch des Streckennetzes – nicht nur im Münsterland, sondern zukünftig auch über die Grenze hinaus bis in die Niederlande.  

Grundsätzlich wird ein Mindestzugangebot aus zwei S-Bahnen je Stunde plus einem RegionalExpress angestrebt. Gefahren werden soll überwiegend im 30-Minuten-Takt. Mit dem Raster wird sichergestellt, dass der Taktknoten Münster Hauptbahnhof weiterhin als Umstiegsbahnhof fungieren kann. Dadurch, dass einige S-Bahnlinien sich im Münsteraner Stadtgebiet überlagern, wird zwischen Münster Zentrum Nord und Hiltrup sogar ein 15-Minutentakt erreicht (sog. Stammstrecke).  

Das Konzept zeigt eine weitreichende Perspektive auf. Zwischenschritte sind geplant. In den Kreisen Coesfeld und Borken können zum nächsten Fahrplanwechsel schon erste Verdichtungen der Verbindungen nach Münster oder Essen angeboten werden. Der Kreis Steinfurt strebt perspektivisch ein dichteres Angebot gerade auf der Strecke Münster-Enschede an. Zudem soll die Planung für die Elektrifizierung dieser Verbindung aufgenommen werden. Der Kreis Warendorf soll von der Reaktivierung der WLE-Strecke zwischen Sendenhorst und Münster und von einer engeren Taktung auf anderen Strecken profitieren.  

In den nächsten Monaten sind weitere, konkretisierende Planungen notwendig, unter anderem zum erforderlichen Infrastrukturausbau, wirtschaftlichen Betrachtungen und eine Fahrgastprognose. Mit den Ergebnissen wird ein Feinschliff zum Angebotszielkonzept vorgenommen, das dann Grundlage für Förderungen durch den Bund sein soll.