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Schlagabtausch mit Nebenwirkungen

Am vergangenen Donnerstag feierte die Satire „Extrawurst“ im Wolfgang Borchert Theater Münster seine Premiere. Pointenreich, punktgenau, blitzschnell und mitunter schmerzhaft hart wird unsere aktuelle Streitkultur attackiert.

„Extrawurst“ von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob ist eine brillante Satire in zwei Akten, die mit wohlgesetzten Pointen unsere aktuelle Streitkultur, die Respektlosigkeit und Intoleranz gegenüber Migranten, Homosexuellen, Veganern und anderen aufs Korn nimmt. Es ist ein großer Spaß mit so viel Hintersinn, dass einem zwischendurch schon mal das Lachen vergeht. Das ein oder andere Mal kann man sich im Kugelhagel des verbalen Schlagabtausches durchaus ertappt fühlen, denn selbst als bekennender Gutmensch kommt man um ein paar Vorurteile offenbar nicht herum.  

Das Stück wird über die Bühne bis in den Zuschauerraum erweitert. Als Zuschauer sitzen wir inmitten der  Mitgliederversammlung des örtlichen Tennisvereins. Das ganze Borchert Theater hat sich in das Vereinsheim verwandelt. Eigentlich läuft bei der Versammlung alles ab wie immer. Die Tagesordnung ist fast abgearbeitet. Im Hintergrund macht ein üppig bestücktes Büffet Appetit. Es braucht nur noch eröffnet zu werden, damit alle nach vorne stürzen dürfen, um sich am üppig gedeckten Tisch zu bedienen.  

Der neue Vereinsvorsitzende ist auch der alte: Dr. Heribert Bräsemann (wieder einmal klasse gespielt von Ensemblemitglied Jürgen Lorenzen). Jovial und erfahren und ein bisschen autokratisch hat er die Versammlung geleitet und möchte nun endlich zum Ende kommen, um mit großer Geste zum Essenfassen einzuladen. Doch unter dem nun aufgerufenen Punkt „Sonstiges“ wittert Matthias Scholz, der stellvertretende Vorsitzende, seine große Stunde. Vom Ehrgeiz überwältigt stellt Scholz (von Florian Bender perfekt bis zur Perfidie ausgefüllt) den neuanzuschaffenden Grillmaster vor, der zwar extrem teuer ist, aber endlich die beim Sommerfest zu beklagenden „Wurst-Peaks“ durch eine ausladene Grillfläche zu meistern verspricht.  

Alles könnte so schön sein. Als Vereinsmitglieder sind wir, die Zuschauer, sogar bereit, das Grillmonster abzuwinken. Da erscheint Melanie Pfaff auf der Szene. Nach ihrem erfolgreichen Doppel mit dem Vereinskollegen Erol Oturan (ein türkisch-stämmiger Deutscher, super assimiliert und klasse gespielt von Markus Hennes) ist sie ein bisschen erschöpft. Nach einem Durstlöscher wandelt sie sich plötzlich in einen Gerechtigkeitsengel. Melanies Frage (hinreißend, spitz und vorwitzig gespielt von Rosana Cleve), ob es nicht eine Form des Respektes gefordert sei, nachdem man für den „Türken“ einen eigenen Grill bereitstellen sollte. Denn Muslime würden zwar auch grillen, aber aus Gründen ihres Glaubens ihre Würste niemals auf einem Grill braten dürfen, auf dem einmal Schweinswürste gegart worden sind. Erol winkt ab. Er möchte keine „Extrawurst“ gebraten bekommen. Aber die Grundsätzlichkeit der aufgeworfenen Frage wirkt mit einem Mal so beruhigend und besänftigend wie die sprühende Lunte an einem Pulverfass.  

Ehe sich die Mitglieder versehen, befinden sie sich in eine heillose Grundsatzdiskussion über Toleranz und Respekt, über Religion und die Anforderungen einer deutschen Leitkultur verstrickt, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Und noch bevor die Frage geklärt werden kann, wie viele Freiräume man einer Minderheit einräumen muss, zerlegt der Club sich kurzerhand selbst.  

Da fliegen die Provokationen und schiefen Vergleiche, Argumente, Meinungen und allerlei blödsinnige Ansichten durch die Luft, so dass sich ein jeder verurteilt und beschämt, verletzt und verwundet fühlen kann. Unter der ziemlich dünnen Oberfläche brechen gängige Vorurteile hervor wie die Keime aus einer Eiterblase. Autoritäre, populistische und rechte Positionen bekommen die Oberhand. Scholz entpuppt sich als Anhänger der AfD und übernimmt als „Führer“ das Regiment, bis auch er aufgeben muss.  

Und da ist da auch noch Torsten Pfaff (toll gespielt von Johannes Langer), der sich nichts von dem religiösen Eifer und dem aufbrechenden Glaubenskrieg zwischen Christen, Muslimen und Juden anziehen will, weil er als Atheist an rein gar nichts glaubt, jeden Gott für eine dumme Einbildung hält und sich am liebsten sowieso aus allem heraushält. Allerdings kann auch er nicht mehr an sich halten als seine Eifersucht gegenüber dem „Türken“ aufbricht, der offenbar nach einem erfolgreichen Tennismatch „minutenlang“ seine Frau umarmt haben soll. Der Videobeweis offenbart allerdings, dass diese ehebrecherische Umarmung maximal drei Sekunden lang gewesen ist.  

Niemandem gelingt es in diesem Chaos seinen sicheren Grund und Boden zu behalten und sich mit einer klaren auf Recht und Gesetz basierenden Position zu behaupten. Ein Abgrund tut sich auf. Die Ordnung ist dahin. Der Vorsitzende legt sein Amt nieder und verlässt den Saal und nach und nach folgen ihm die anderen auch.  

Tätliche Angriffe ersetzen Argumente. Entschuldigungen werden im Sekundentakt wieder zurückgenommen. Da fliegen gegenseitige Vorhaltungen und Anwürfe, Anfeindungen und Unterstellungen in einem Tempo gegeneinander übers Netz als würde eine Ballmaschine auf der Bühne verrückt spielen. Und die Zuschauer sind als Vereinsmitglieder mittendrin. Zwar versucht der Vereinsvorsitzende mehrmals mit der Mahnung „Fair Play“ ins Geschehen einzugreifen und als Schiedsrichter aufzutreten, aber vor den Vorurteilen seiner Vereinskollegen kann er am Ende nichts mehr anrichten.  

Wie schon des Öfteren hat Intendant Meinhard Zanger einmal wieder ein gutes Näschen für aktuelle, zeitkritische Stücke bewiesen. Das Wolfgang Borchert Theater bringt die Uraufführung der hochdeutschen Fassung auf die Bühne. In Hamburg gibt es gerade parallel die Uraufführung einer plattdeutschen Fassung im bekannten Ohnsorg-Theater. Und in den kommenden Wochen ziehen gleich mehrere Bühnen nach.  

Das Stück rührt offenbar an einem wunden Punkt und schafft es neben seinem Unterhaltungswert auch im Oberstübchen der Zuschauer ein bisschen Unordnung zu schaffen. Gut so. „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!“ Diskutieren hilft.  

Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob sind erfahrene Autoren und haben spätestens mit „Stromberg“ bewiesen, dass sie preiswürdige, unterhaltsame und hintergründige Vorlagen liefern können. „Extrawurst“ bietet in der großartigen Inszenierung von Monika Hess-Zanger einen unterhaltsamen Abend, der einem reichlich Stoff für angeregte Gespräche gibt, denn so ganz einfach und lupenrein ist es nicht um unsere Diskussionskultur bestellt.  

www.wolfgang-borchert-theater.de

Fotos: Klaus Lefebvre  

Jörg Bockow